Prozess: Klinikskandal in NRW:"Ich habe mich übernommen"

Zitronensaft zur Wunddesinfektion, überflüssige Darmoperationen und unnötige Nierenentfernung: Nach einem monatelangen Prozess wird das Urteil gegen den früheren Chef der Wegberger Klinik erwartet.

Johannes Nitschmann, Mönchengladbach

Anderthalb Jahre hatte Arnold Pier im Schwurgerichtssaal L 100 des Mönchengladbacher Landgerichts hartnäckig zu den schweren Anklagevorwürfen geschwiegen. Dann rang sich der ehemalige Besitzer und Chefarzt der Sankt-Antonius-Kliniken im rheinischen Wegberg zu einem Geständnis durch. "Ich bedauere die Fehler, weil ich meinen Patienten Schaden zugefügt habe. Ich habe mich übernommen", sagte der 54-jährige Angeklagte kleinlaut mit brüchiger Stimme in seinem Schlusswort. Ihm sei bewusst, dass eine Entschuldigung bei den geschädigten Patienten und deren Angehörigen "nicht genügen" werde.

Urteil Klinik-Skandal

Ort des Skandals: In der Sankt-Antonius-Klinik im rheinischen Wegberg soll Arnold Pier in 69 Fällen falsche Diagnosen gestellt haben.

(Foto: dpa)

Wenn die Siebte Große Strafkammer an diesem Montag ihr Urteil in einem der bundesweit größten Klinikskandale verkündet, ist der prominente Chirurg, der sich bei "TV-Live-Operationen" gerne auf die Finger schauen ließ, auf eine etwa vierjährige Gefängnisstrafe gefasst. Nach 37 Verhandlungstagen hatte das Gericht der Staatsanwaltschaft und Verteidigung überraschend "eine Verständigung" vorgeschlagen, um so einen womöglich noch mehrere Jahre dauernden Mammutprozess zu vermeiden. Die Strafkammer stellte Pier eine Verurteilung zu dreieinhalb bis viereinhalb Jahren Haft in Aussicht, falls er sich zu einem Geständnis durchringe. Der einstige Fernseh-Arzt, der sich im Gerichtssaal zuvor monatelang als Doktor Tadellos inszeniert hatte, ging auf diesen Deal ebenso ein wie die Staatsanwaltschaft.

Dabei hatten die Ankläger zu Prozessbeginn massive Vorwürfe gegen den einstigen Wegberger Klinikbesitzer erhoben. Ihm wurde die fahrlässige Tötung von vier Patienten im Alter zwischen 50 und 92 Jahren angelastet. In drei weiteren Fällen klagte die Staatsanwaltschaft aufgrund ärztlicher Kunstfehler eine Körperverletzung mit Todesfolge an. Während die Fachwelt von Pier als Wegbereiter der schonenden Operationstechniken schwärmte, sah Oberstaatsanwalt Lothar Gathen in dem Mediziner einen rücksichtlosen Raffke, der mindestens sieben Menschenleben auf dem Gewissen habe. In seinem 93-Betten-Krankenhaus am Niederrhein habe sich Arnold Pier zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen, erklärte der Ankläger zu Prozessbeginn.

In ihrer 386-seitigen Anklageschrift listeten die Ermittler insgesamt 69 Fälle auf, in denen Pier angeblich "aus purem Gewinnstreben" falsche Diagnosen gestellt oder unnötige Operationen durchgeführt habe. Sämtliche Abteilungen seiner Klinik habe Pier "einem strengen Wirtschaftlichkeitspostulat unterworfen", heißt es dort. In zahlreichen Fällen habe Pier angeordnet, statt einer teuren sterilen Lösung frischgepressten Zitronensaft zur Wunddesinfektion zu verwenden. Teure Medikamente wie Antibiotika, Heparin und Blutkonserven seien äußerst sparsam eingesetzt worden. Alleine aus Gründen der Profitmaximierung habe der Chefarzt überflüssige Darmoperationen durchgeführt oder bei Patienten unnötig Gallenblase, Blinddarm, Nieren oder Brustfell entfernt.

Vermutlich mildes Urteil

Zwar wurden die Indizien gegen Pier im Laufe des Prozesses durch Zeugen- und Gutachteraussagen immer erdrückender. Doch die drei Anwälte des Angeklagten beharrten lange auf der Unschuld ihres Mandanten, der Opfer einer "beispiellosen Rufmordkampagne" sei. Am Ende war ihre Prozesstaktik, das Gericht mit zeitraubenden Befangenheits- und Beweisanträgen zu zermürben, durchaus erfolgreich. Die Kammer stellte zahlreiche Anklagevorwürfe ein, schwächte etliche Strafdelikte ab und schlug schließlich einen Deal zur Beendigung dieses Strafprozesses vor: milde Strafe gegen ein Geständnis.

Dabei machte die Staatsanwaltschaft mit. Während die Ankläger in früheren Haftbefehl-Anträgen für Pier noch eine bis zu zehnjährige Freiheitsstrafe prognostiziert hatten, beantragte Oberstaatsanwalt Gathen nach dem Deal eine Verurteilung auf vier Jahre Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft rückte vom Vorwurf der Profitgier ab. Das Motiv für die Fülle der gravierenden Behandlungsfehler sei letztlich nicht schlüssig aufzuklären, gestand Oberstaatsanwalt Gathen in seinem Plädoyer. Der gelernte Flugzeugingenieur Pier habe als Arzt "im Blindflug gehandelt", womöglich aus Arbeitsüberlastung in seiner multiplen Rolle als Klinikbesitzer und Chefarzt.

Pier, dem seinerzeit bei der Zustellung der Anklage wegen der hohen Straferwartung gleichzeitig ein Haftbefehl präsentiert worden war, kann nun auf eine Perspektive als Mediziner hoffen. Die Staatsanwaltschaft hat lediglich ein fünfjähriges Berufsverbot beantragt, während die Nebenkläger bei dem ehemaligen Wegberger Chefarzt auf einen lebenslänglichen Entzug der ärztlichen Approbation pochen. Die zuständige Kölner Bezirksregierung hatte bei Pier bereits nach Einleitung der gegen ihn gerichteten Strafermittlungen "eine Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs" festgestellt.

Das Gericht in Mönchengladbach wird vermutlich milder urteilen. Der Vorsitzende Richter Lothar Beckers hat bereits angekündigt, dass der Angeklagte die gegen ihn zu verhängende Haftstrafe von etwa vier Jahren nicht vollständig werde verbüßen müssen. "Zwischen neun und 13 Monaten" dieser Gefängnisstrafe gedenke das Gericht als bereits vollstreckt anzurechnen - "wegen der überlangen Verfahrensdauer".

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