Prozess in Tübingen:Unglück oder Fahrlässigkeit?

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Nagold, 11. August 2017: Es dauerte nach dem Unfall eine Stunde, das Müllauto aufzurichten. In dem darunter zerquetschten Pkw starben fünf Menschen. (Foto: Andreas Rosar/dpa)
  • Vor dem Landgericht Tübingen ist ein 55-jähriger Berufskraftfahrer wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.
  • Der Mann war im August 2017 mit einem Müllwagen auf einer Landstraße in der Nähe von Tübingen unterwegs; der Wagen kippte um und tötete fünf Menschen.
  • Laut Anklage war der Müllwagen zu schnell unterwegs; der Fahrer behauptet, es hätte Probleme mit der Bremse gegeben.

Von Josef Kelnberger, Tübingen

Der Mensch hört nicht auf, nach dem Sinn des Lebens zu suchen, selbst im Angesicht des Todes. Wird er nicht fündig, dann spricht er gern von einem "Schicksalsschlag". Aber wie soll man das nennen, wenn fünf sehr junge Menschen, allesamt einer Familie zugehörig, in ihrem Auto auf der Landstraße von einem umkippenden Müllwagen erdrückt werden? Wie sollen die Angehörigen diese monströse Form des sinnlosen Todes je verkraften? Kann ein Gericht ihnen helfen, indem es einen Schuldigen bestraft? Kann es in so einem Fall so etwas wie Rechtsfrieden am Ende des Prozesses geben?

Von Weinattacken geschüttelt, sitzt der Berufskraftfahrer Johann J., 55, am Mittwoch als Angeklagter im Saal 120 des Landgerichts Tübingen und gibt Auskunft über seine verhängnisvolle Fahrt am 11. August 2017. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung. Er hat den Müllwagen von einer abschüssigen Seitenstraße hinein in die L 361 bei Nagold, Landkreis Calw, gesteuert - mit mehr als 50 Kilometern pro Stunde, wie die Ermittler herausfanden. Deshalb stürzte das mehr als zwanzig Tonnen schwere Gefährt beim Abbiegen um. Das Schicksal, oder wer auch immer, wollte es, dass in jenem Augenblick ein Auto entgegen kam.

Die schrecklichen Bilder aus Nagold machten im vergangenen Sommer die Runde in Deutschland, garniert mit den üblichen Bemerkungen: Die Opfer seien zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, so schnell könne das Leben vorbei sein. Schicksal. Von einem technischen Defekt war die Rede. Dann erhob die Staatsanwaltschaft doch Anklage. Man fand am Müllwagen offenbar keine Spuren eines Defekts.

Er habe gemerkt: "Da stimmt etwas nicht"

Johann J. ist in Kasachstan geboren, deutscher Staatsbürger. Seit vielen Jahren fährt er Lkw. In gebrochenem Deutsch schildert er die verhängnisvollen Sekunden, die abschüssige Strecke hinab, die er gut kannte. Hat er aus Übermut, aus Unachtsamkeit die Kontrolle verloren? War er überfordert mit der Technik, hat er das falsche Bremssystem betätigt? War er nicht ausreichend geschult? Die Fußbremse habe nicht funktioniert, sagt er immer wieder. Er habe gemerkt: "Da stimmt etwas nicht." Aber es scheint keinen Beleg zu geben, dass irgendetwas an dem Fahrzeug kaputt war. Kurz bevor er umkippte, habe er das entgegenkommende Auto bemerkt, sagt J. Nachdem er herausgeklettert war, entdeckte er dann ein Stück Blech unter seinem Lkw. Und niemand gab einen Laut. "Schrecklich", sagt er, und wieder weint er.

Auch seine Entschuldigung geht in Tränen unter. Es dauerte damals eine Stunde, das Müllauto aufzurichten. In den Trümmern des Pkw waren gestorben: die 25 Jahre alte Fahrerin, ihr 22-jähriger Freund, die zweijährige Tochter, der wenige Wochen alte Sohn, die 17-jährige Schwester der Fahrerin. Die Toten entstammen einer Familie, deren Lebensinhalt es ist, den Menschen Freude zu machen. Zirkusleute, Schausteller. Mehr als 2000 Menschen kamen zur Trauerfeier. Es wurde bei der Zeremonie keine Musik gespielt. Es gab, wie bei Zirkusleuten üblich, Beifall für die Toten am offenen Grab.

Der Seelsorger, der die Angehörigen seither begleitet, berichtete vor dem Prozess: Die Hinterbliebenen würden täglich die Gräber besuchen, sie würden langsam lernen, mit der Last umzugehen, aber im Zirkus auftreten könne noch niemand. Sie lebten von einer Spendenaktion, die nach dem Unfall gestartet wurde. Und ja, die Wut auf den Fahrer sei groß. Die vier Angehörigen, die als Nebenkläger auftreten, erschienen nicht vor Gericht. Sie fühlen sich ihrem Anwalt zufolge emotional nicht dazu in der Lage.

Der Prozess begann unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen. Angesichts der großen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Verhandlung hatte der Verteidiger schon vorab seine Sicht der Dinge dargelegt. Er halte nichts davon, seinen Mandanten im Falle eines Schuldspruchs ins Gefängnis zu stecken. "Eine solche Strafe kann den unermesslichen Verlust und das tiefe Leid der Angehörigen niemals abbilden, sondern dient einem meiner Ansicht nach nicht mehr zeitgemäßen Vergeltungsgedanken - Auge um Auge, Zahn um Zahn". Aus Akten, die verlesen wurden, geht hervor, dass der Angeklagte Angst hat, seine Frau und er könnten Opfer einer "Blutrache" der Angehörigen werden.

Johann J. leidet laut ärztlicher Diagnose unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, er war einige Wochen lang in psychiatrischer Behandlung. Für die Verhandlung hatte er seine Ledertasche so gepackt, wie er sie früher für die Arbeit immer gepackt hat. Er holte eine Flasche Wasser heraus und seine Lieblingskekse. Zusätzlich hat er nun Beruhigungstabletten dabei.

© SZ vom 08.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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