Prozess in Oslo:Rätselraten um Breiviks Psyche

Ist er Autist? Leidet er am Tourette-Syndrom? Dass Anders Behring Breivik nicht ganz gesund ist, darin sind sich die Psychiater einig. Ob er schuldfähig ist oder nicht, ist dagegen zur bestimmenden Frage im Prozess gegen den Attentäter geworden. Etliche Zeugen sagen dazu aus. Nur einen wunden Punkt des Angeklagten können sie entlarven.

Annette Ramelsberger und Gunnar Herrmann, Oslo

Torgeir Husby ist sich sicher: Die Augen des Massenmörders haben geglänzt vor Freude und seine Wangen glühten voll Begeisterung, als der Mann ihm damals von seinen Plänen berichtete. Anders Behring Breivik habe ihm erzählt, dass er eigentlich noch viel mehr vorgehabt habe, am 22. Juli 2011. Angestrebt habe er mit seinen Terroranschlägen eine Opferzahl von etwa 2000 Toten. Richtig glücklich habe Breivik ausgesehen, als er diese fürchterlichen Dinge im vergangenen Jahr in der Hochsicherheitsabteilung des Ila Gefängnisses sagte. Und das war einer der Momente, in denen Husby klar wurde: Der Mann ist verrückt.

Mass killer Anders Behring Breivik sits in the courtroom in Oslo

Nur als die Psychiater auf seine Kindheit und Familie zu sprechen kommen, verliert Anders Breivik die Fassung. Das sei "entwürdigend", meint er.

(Foto: REUTERS)

Es sind viele gruselige Szenen, die der Psychiater da im Gerichtsaal 250 beschreibt. Er lässt sich Zeit, schildert alles ganz genau. Denn er weiß: Hier im Zeugenstand ist auch er es, der sich verteidigen muss. Husby und seine Kollegin Synne Sørheim haben Breivik im vergangenen Jahr in 13 Sitzungen untersucht, insgesamt 35 Stunden lang. Am Ende schrieben sie ein 239 Seiten starkes Gutachten. Diagnose: Der Patient leidet an paranoider Schizophrenie, er ist unzurechnungsfähig und gehört in eine geschlossene Anstalt, nicht ins Gefängnis.

Seitdem dreht sich das Rechtsverfahren vor allem um die Frage, ob diese Diagnose stimmt. Von Anfang an gab es viele Kritiker. Und als die Richter ein zweites Gutachten bei den Psychiatern Agnar Aspass und Terje Tørrisen bestellte, war das Chaos perfekt. Denn die Zweigutachter kamen zu einem völlig anderen Ergebnis. Und auch sie sind sich sicher: Breivik ist zurechnungsfähig. Das Gericht versuchte nun, im Prozess herauszufinden, welche Experten Recht haben. Ein schwieriges, vielleicht unmögliches Unterfangen. Tagelang trat ein Psychiater nach dem anderen in Zeugenstand. Jeder hatte seine eigenen Beobachtungen gemacht und Theorien entwickelt.

Dass Breivik krank ist, glauben die meisten der Experten. Aber woran er genau leidet und inwiefern die Krankheit ihn schuldunfähig macht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Warum das so ist, soll zu Beginn der Prozesstage, an denen die Psychiater gehört werden, Professor Ulrik Fredrik Malt erläutern. Fast einen ganzen Tag lang nimmt der Psychiater von der Universität Oslo im Zeugenstand die beiden Gutachten auseinander. Beide Expertisen seien grundsätzlich ordentlich gemacht, lobt der Professor und die vier Gutachter vor der Richterbank sehen dabei ein bisschen aus wie Erstsemester beim Examen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Malt kam nach längerer Debatte auch die rechtsmedizinische Kommission, die rechtspsychiatrische Gutachten in Norwegen prüfen muss - sie erklärte letztlich beide Diagnosen für gültig. Die unterschiedlichen Ergebnisse erklärt Malt dann damit, dass die Gutachter eben unterschiedliche Beobachtungen gemacht und bestimmte Symptome anders gewichtet hätten. Psychiater können ihren Patienten nicht in den Kopf sehen. Sie müssen anhand von Tests und Gesprächen nach Symptomen forschen - und diese dann zu einem Krankheitsbild zusammenfügen. "Wie bei einem Puzzle", sagt Malt. Und präsentiert dann gleich noch eine dritte Diagnose, die er selbst gepuzzelt hat: Er meint, dass Breivik am Tourette-Syndrom oder an Asperger leidet, einer autistischen Störung.

"Das ist entwürdigend"

Breivik folgt dem Vortrag grinsend, aber sichtlich nervös. Ständig nippt er an seinem Wasserglas, rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Als Malt die Symptome beschreibt, die für seine Diagnose sprechen sollen - die aufgeblasene und überhebliche Selbstdarstellung, die manische Beschäftigung Breiviks mit seinem politischen Thema, und die Ticks, nervöse Zuckungen, die Malt in Breiviks Mimik beobachtet haben will - da fällt ihm der Angeklagte wütend ins Wort. "Das ist entwürdigend. Ich möchte dazu etwas sagen." Die Richterin weist ihn zurecht.

Zuvor hat Breiviks Anwalt Geir Lippestad zwei Stunden lang versucht, Malts Aussage mit komplizierten Verfahrensfragen zu stoppen. Denn Breivik sieht sich selbst als Tempelritter, als Freiheitskämpfer, als rechtsextremen Ideologen. Er will um jeden Preis ins Gefängnis. Seine Verteidiger kämpfen vor Gericht vor allem darum, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Dass er den Massenmord vom 22. Juli begangen hat, steht außer Frage.

Breiviks wunde Punkte scheinen vor allem seine Familie und sein Privatleben zu sein. Über seine Anwälte ließ er schon vor Prozessbeginn ausrichten, er wünsche keine Angehörigen im Zeugenstand. Er möchte offenbar das Bild wahren, dass er in seinem gut 1500 Seiten starken Pamphlet zeichnet. Er habe eine glückliche Kindheit in privilegiertem Hause gehabt, schreibt er dort knapp.

Kann man eine Psychose verbergen?

Bekannt ist, dass Breiviks Eltern sich kurz nach seiner Geburt scheiden ließen. Er wuchs mit seiner älteren Halbschwester bei der Mutter auf. Die Familie wurde ein Fall für die Sozialbehörden. Ein Kinderpsychologe empfahl sogar, den damals vierjährigen Anders in einer Pflegefamilie unterzubringen und warnte, daheim drohe er, psychischen Schaden zu nehmen. Der Vater versuchte daraufhin, das Sorgerecht zu erstreiten, unterlag aber vor Gericht. Am Ende blieb Breivik dann doch bei der Mutter. Weder sie, noch der Vater, noch der Stiefvater, mit dem Breivik als Teenager viel Kontakt hatte, wollten vor Gericht aussagen. Auch der Kinderpsychologe, der einst vor Problemen gewarnt hatte, blieb unter Verweis auf seine Schweigepflicht dem Prozess fern.

Am Ende gaben im Saal 250 nur Breiviks Freunde Auskunft über die Jugend des Angeklagten. Die beschreiben ihn als ziemlich normal und durchschnittlich. "Anders war offen, ehrlich, loyal und gesellig", erinnert sich sein bester Freund. "Aber er hatte natürlich eigenartige politische Ansichten." Spätestens seit 2006 merkten die Freunde allerdings, dass etwas nicht stimmte. Breivik gab damals seine Junggesellenwohnung in Oslo auf und zog wieder zu seiner Mutter. Er kapselte sich ab und spielte in seinem alten Kinderzimmer World of Warcraft.

Die Mutter hat im Gespräch mit den Psychiatern Husby und Sørheim erzählt, wie verzweifelt sie darüber war, dass sie nicht mehr an ihren Sohn herankam. Er ließ sich das Essen durch einen Türspalt reichen, und verstieg sich immer mehr in seine Ideologie. "Und dann glaubte er den ganzen Unsinn auch noch", sagte die Mutter den Psychiatern. Sie hält ihren Sohn ebenfalls für verrückt. Ihre Aussage hat die beiden ersten Gutachter offenbar tief beeindruckt. Ebenso wie sie waren Husby und Sørheim auch entsetzt über die menschverachtende Weltsicht des Angeklagten, sein völlig übersteigertes Selbstbild, seine Tempelritterphantasien. Sie werteten all das als Wahnvorstellungen und Beleg für eine schwere Psychose.

Die zweiten Gutachter Aspass und Tørissen sahen darin eher Belege für Rechtsextremismus. Und Experten auf diesem Gebiet bestätigen vor Gericht, dass Breiviks Ansichten nicht untypisch sind für die extreme Rechte. Eine Psychose konnten Aspass und Tørissen dagegen nicht erkennen. Und die beiden bekommen vor Gericht eine Menge Unterstützung von Kollegen: Fast alle Gefängnispsychiater, die Breivik während der Haft betreut haben, teilen ihre Beurteilung.

Lernen aus den Medienberichten

Ein Problem ist allerdings, dass Aspass und Tørissen erst mit Breivik sprechen konnten, nachdem er bereits Zugang zu Medien bekommen hatte. In seiner Zelle konnte er die Zeitungen lesen, in denen ausführlich über seinen Geisteszustand berichtet und die Symptome einer Psychose in allen Details diskutiert wurden. Hat Breivik aus den Artikeln gelernt und sein Verhalten angepasst, um die Experten zu täuschen? Möglich wäre es. Aber die Gefängnispsychiater trafen ihn zum Teil bereits, als er noch isoliert war.

"Kann ein Mensch die Symptome für eine Psychose vor Ihnen verbergen?", fragt Staatsanwältin Inga Bejer Engh die Leiterin der psychiatrischen Beobachtungsgruppe des Ila-Gefängnisses, Randi Rosenqvist. "Sehr begrenzt", antwortet diese. "In 21 Tagen zeigt er entweder Symptome. Oder wir würden entdecken, dass er sie verbirgt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Symptome für eine Psychose nicht entdeckt würden."

So steht also Aussage gegen Aussage. Für den Psychiater Malt etwa ist ganz klar, dass er hier einen Patienten vor sich hat. "Ich sehe kein dämonisches Monster, keinen rechtsradikalen Teufel, ich sehe einen sehr einsamen Mann", sagt er am Ende seines Vortrags zum Angeklagten gewandt. Ein Mensch sei das, der in seiner eigenen Welt gefangen sei und nicht hinaus könne. "Das, was am 22. Juli passierte, ist eine Tragödie für Norwegen, eine Tragödie für uns hier im Gerichtsaal." Er macht eine kurze Pause. "Und es ist, meine ich, auch eine Tragödie für Breivik." So muss man das sehen, wenn man den Mörder für unzurechnungsfähig hält.

Keine krankhafte Ideologie

Einer der stärksten Zeugen der Verteidigung, der Moralphilosoph Einar Øverenget, sieht es dagegen anders: Er warnt eindringlich davor, leichtfertig jemanden für unzurechnungsfähig zu erklären. "Das ist eine dramatische Behauptung, weil damit das grundlegend menschliche, die Selbstbestimmung, abgesprochen wird." Und Breiviks Taten, meint er, ließen sich auch problemlos mit seiner menschenverachtenden Ideologie erklären, ganz ohne Psychiatrie.

Øverengets Spezialgebiet ist das Werk von Hannah Arendt und er zieht vor Gericht mehrmals Parallelen zum Eichmann-Prozess. Adolf Eichmann, der im Zweiten Weltkrieg als SS-Obersturmbannführer den millionenfachen Mord in den Vernichtungslagern plante, sei ein liebender Familienvater gewesen. "Eichmann war durchaus zu Empathie fähig. Aber nicht gegenüber den Menschen, die er als Feinde betrachtete." Ähnliche Züge meint Øverenget im Fall Breivik zu erkennen. Einerseits ist da ein durchschnittlicher Mann Anfang 30, der Computer spielt und mit Freunden auf Grillfeste geht. Andererseits ein eiskalter Killer, der zielstrebig tödliche Autobomben baut und mit ruhiger Hand Jugendlichen in den Kopf schießt. "Es ist schwierig sich vorzustellen, dass eine Person, die so systematisch vorgeht, nicht für ihre Taten verantwortlich sein soll", sagt Øverenget.

Am kommenden Donnerstag und Freitag werden in Olso die Schlussplädoyers gehalten. Was die Verteidigung fordert ist bereits klar: Gefängnis. Die Staatsanwälte plädieren in ihrer Anklageschrift dagegen auf unzurechnungsfähig. Aber sie haben sich vorbehalten, ihre Ansicht noch zu ändern, sollten im Prozess neue Argumente auftauchen. Neue Argumente gibt es nun eine ganze Menge. Aber die Entscheidung über Breiviks Zurechnungsfähigkeit ist damit kein bisschen leichter geworden.

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