Prozess in Oslo:Breivik schrumpft im Scheinwerferlicht

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Ein Strafprozess kann keine Toten zurückholen, keine Wunde heilen. Doch er kann Opfern ihre Würde zurückzugeben. Das hat die norwegische Justiz im Prozess gegen Anders Behring Breivik bewiesen. Deutschland sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Denn auch hier erwarten sich etliche Familien vom NSU-Prozess mehr als bloße Wahrheitsfindung.

Annette Ramelsberger

Einmal hat die Richterin geweint. In einem dieser Momente, als wieder ein junges Mädchen erzählte, wie vor seinen Augen die Freunde getötet wurden, per Kopfschuss. Von einem Mann, der sich als Polizist verkleidet hatte. Die Richterin hat geweint, aber sie hat nie die Distanz verloren. Sie hat mit scharfer Präzision durch den Prozess gegen den rechtsextremistischen Attentäter Anders Behring Breivik geführt, der am 22. Juli des vergangenen Jahres in Norwegen 77 Menschen umbrachte und ein ganzes Land in Verzweiflung stürzte.

Ein Strafprozess ist dazu da, der Wahrheit nahezukommen, den Unschuldigen freizusprechen und den Schuldigen zu verurteilen. Das ist die Kernaufgabe der Richter. Sie können nicht die Wunden heilen, die ein Täter den Opfern zugefügt hat. Sie können keine Toten ins Leben zurückholen. Dennoch vermag ein Strafprozess viel. Er muss sich nicht damit begnügen, "den Lichtkegel seines Schweinwerfers auf einzelne strafbare Handlungen zu werfen", wie es der große Rechtsphilosoph Gustav Radbruch einst sagte. Er solle darüber hinaus "die fließende Ganzheit des Lebens" erforschen.

Dem Gericht in Oslo ist das gelungen. Es hat nicht nur bis in jede Verästelung hinein untersucht, ob der Angeklagte verrückt ist oder zurechnungsfähig. Es hat den rechtsextremistischen Hintergrund im Land ausgeleuchtet, der einen wie Breivik inspirierte. Und es hat geschafft, nicht nur den Buchstaben des Gesetzes Genüge zu tun, sondern auch die Ermordeten posthum zu ihrem Recht kommen zu lassen; Opfer, die eine Zukunft gehabt hätten - wenn der Attentäter Breivik sie ihnen nicht genommen hätte. Auch die Überlebenden mussten nicht nur als Zeugen herhalten, die möglichst sachlich über jedes Detail der Taten Auskunft geben sollten - sondern sie durften und sollten erzählen, wie sie den Anschlag überstanden haben. Die Norweger haben einen im Radbruch'schen Sinne ganzheitlichen Prozess geführt - mit Respekt für die Opfer, aber auch mit akkurater Wahrheitsfindung.

Gerade in Deutschland lohnt es sich, genau auf diesen Prozess zu schauen. Denn hier werden bald zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge mit 23 Verletzten verhandelt, die rechtsextremistische Terroristen begangen haben. Schon im Herbst soll die Anklage fertig sein. Dieser Prozess wird nicht gegen die eigentlichen Täter des "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) geführt, die sich erschossen haben. Aber auch diese Verhandlung kann im besten Fall mehr sein als nur die akkurate Beweisführung darüber, ob das einzig verbliebene Mitglied des NSU, Beate Zschäpe, nur sorgende Hausfrau für die zwei Schützen war, oder doch gleichberechtigtes Mitglied der Terrorzelle.

Auch in Deutschland gibt es eine rechtsextremistische Szene, und auch hier erhoffen sich Dutzende von Hinterbliebenen der türkischen, griechischen und deutschen Opfer mehr als bloß Wahrheitsfindung. Familien, die sich seit zehn Jahren vom Staat zu Unrecht verdächtigt fühlten, wünschen nun Genugtuung; zumal sie von der Aufarbeitung der NSU-Taten im Untersuchungsausschuss des Bundestags enttäuscht sind.

Breivik hätte sich Todesstrafe gewünscht

Die Norweger haben bewiesen: Man muss die Opfer vor Gericht kein zweites Mal traumatisieren. Man kann sie respektvoll behandeln, ohne die Wahrheitsfindung zu vernachlässigen. Ein Land muss auch nicht hysterisch werden, wenn es mit Verbrechen ungeahnten Ausmaßes konfrontiert wird. Ausnahmetaten brauchen keine Ausnahmegesetze. Der norwegische Attentäter Breivik war sogar enttäuscht, dass für ihn nicht die Todesstrafe eingeführt wurde. Und er war konsterniert, dass er den Prozess nicht als Werbung für seine Ziele nutzen konnte. Das verhinderten die klugen Fragen der Staatsanwälte, die den selbst ernannten Retter Europas zum Größenwahnsinnigen zusammenschrumpfen ließen.

All das gelang der Justiz auch deshalb, weil es eine staunenswerte Offenheit zelebrierte. Damit ist nicht die Übertragung des Prozesses im Fernsehen gemeint - die ist nicht nachahmenswert. Die Entscheidung der Richterin, den Auftritt der Psychiater vollständig zu senden, den von Breivik aber nur in Auszügen - diese Entscheidung führte nur zu Geplänkeln darüber, ob das Gericht befangen sei. Staunenswerte Offenheit, das heißt: Die Norweger haben dem Verfahren das Geheimnisvolle genommen, das in deutschen Gerichtssälen immer noch praktiziert wird: Staatsanwälte und Verteidiger erklärten nach fast jedem Prozesstag, auf was es ankam.

Sie übersetzten juristische Begriffe ins Allgemeinverständliche, zum Beispiel erklärten sie genau, was "schuldfähig" bedeutet, und was "psychotisch". Die Zeugen konnten mit dem Cursor auf dem Laptop zeigen, auf welchem Weg sie vor Breivik geflohen sind, man konnte das auf Videowänden sehen. So konnten die Zuschauer den Ablauf der Taten wirklich nachverfolgen. Das Gericht nahm die Bürger mit auf den Weg der Wahrheitsfindung. Auch davon kann Deutschland lernen - hier, wo Justitia oft mit einer Bugwelle von Bedeutung einherschreitet und stolz darauf ist, dass nur Ausgewählte sie verstehen. Und kein Richter sich Tränen erlauben würde - egal, wie angerührt er ist.

© SZ vom 22.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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