Prozess in Minden:Draußen, unbemerkt

Prozessauftakt gegen Erzieherin

Die Eltern und Nebenkläger des zu Tode gekommenen Kleinkindes halten im Gerichtssaal in Minden einander bei der Hand

(Foto: Oliver Krato/dpa)
  • Das Amtsgericht Minden hat eine Erzieherin wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt.
  • Die 38-Jährige soll ihre Aufsichtspflicht verletzt haben: Ein 16 Monate altes Kind hatte sich unbemerkt von der Gruppe gelöst und war ertrunken.
  • Die Angeklagte weint vor Gericht und sagt, der Tod des Kindes tue ihr Leid. Es geht um die Frage, wie man einen tragischen Unfall juristisch verfolgen kann.

Von Gianna Niewel, Minden

Die Verhandlung läuft dreieinhalb Stunden, als die Verteidigerin fragt, ob man das Verfahren einstellen könne. Es gehe nicht darum, die Schuld am Tod des kleinen Luca von der Mandantin zu weisen, aber die Lebenslast, die sie trage, wiege schwer - unabhängig davon, ob ein Urteil gesprochen wird oder nicht. Die Frau wird psychotherapeutisch behandelt, ist arbeitsunfähig, Fremde haben sie schon "Mörderin" genannt. Die Eltern des verunglückten Luca sind Nebenkläger, sie schütteln den Kopf, ihr Rechtsanwalt lehnt ab. Man stelle kein Verfahren ein, wenn ein Mensch gestorben ist.

Luca krabbelte nach draußen, als die Erzieherin mit den Kindern im Stall war

Freitag, Amtsgericht Minden, Saal 223. Es geht um die Frage, ob eine heute 38 Jahre alte Erzieherin aus Porta Westfalica ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. Sie ist angeklagt wegen fahrlässiger Tötung. Es geht um Schuld und Verantwortung und um die Frage, wie man einen tragischen Unfall juristisch verfolgen kann. Wie man ein Unglück mit Paragrafen fasst. "Unglück", so sagt die Verteidigerin.

Die Angeklagte spricht erst nicht, sie sitzt in sich gesackt, wickelt einen bunt gestreiften Schal enger um den Hals. Die Verteidigerin spricht für sie. Ihre Mandantin hat als Tagesmutter gearbeitet. Seit März 2014 führte sie eine eigene private Kindertagesstätte, das "Eulennest" im Haus ihrer Eltern im Kreis Minden-Lübbecke. Das Konzept des Eulennests: Die Kinder spielen naturnah, ernten Obst, haben Kontakt zu Ziegen, Hühnern, Schafen.

Im Juni 2015 war die Angeklagte mit mehreren Kindern im Stall, dabei war auch Luca, 16 Monate alt. Die Frau wollte mit den Kindern die Hühner und Gänse aus dem Stall lassen. Luca krabbelte währenddessen nach draußen, unbemerkt. Die Erzieherin rief nach Luca, suchte ihn, eine Kollegin half ihr dabei. Sie fanden den Jungen. Er war kopfüber in einen Maurerkübel aus schwarzem Plastik gefallen. In dem Kübel standen etwa zehn Zentimeter Wasser. Die Angeklagte versuchte, Luca wiederzubeleben, auch die Versuche des Rettungsdienstes blieben vergeblich. Der Junge war tot. Ertrunken.

Wie schwer muss es sein, diesen tragischen Unfall als solchen hinzunehmen?

Vor Gericht wird nun die Mutter angehört, eine Floristin, sie sagt, welchen guten Eindruck sie vom Eulennest hatte. Sie knetet einen Stoffteddy. Sie weint. Dann der Vater, ein Industriemechaniker, er erzählt, wie aufgeweckt der Junge war, wie schnell er krabbelte, dass er sich an Möbeln hochziehen konnte, unsicher stehen. Er weint. Erst vergangene Woche haben die Eltern Nebenklage eingereicht, am Montag hat das Gericht sie zugelassen. Vielleicht gibt ihnen die Nebenklage das Gefühl, irgendetwas tun zu können, wenn sie schon zum Zeitpunkt des Geschehens nicht da waren. Wie schwer muss es sein, diesen tragischen Unfall als tragischen Unfall hinzunehmen? Und: Kann man den Eltern verübeln, dass sie einen Verantwortlichen suchen?

Beide starren ins Leere, als die Sachverständige spricht, sie hat die Leiche von Luca obduziert. Sie beschreibt seine geblähte Lunge, die Wunde auf der Stirn vom Sturz. Sie sagt, dass der Kopf von Kleinkindern so schwer sei, sie könnten ihn gerade heben. Schon eine Pfütze reicht zum Ertrinken. Die Sachverständige sagt, dass alles getan wurde, was man hätte tun können, von der Angeklagten, von den Rettungskräften.

Die Angeklagte weint. Als Erzieherin hat sie die Aufsichtspflicht von den Eltern übernommen. Sie muss die Kinder nicht auf Schritt und Tritt überwachen, kann sie auch nicht, Staatsanwältin, Verteidigerin und der Anwalt der Nebenkläger sind sich darin einig. Und trotzdem kann sie verurteilt werden, ohne unmittelbar zu dem Geschehen beigetragen zu haben, sie kann verurteilt werden, weil sie einen Schaden nicht verhindert hat. Deshalb geht es hier, in diesem Verfahren in Minden im Saal 223 vor allem darum, welche Gefahr sie hätte erkennen müssen. Den Maurerkübel.

Die Erzieherin sagt, dass der Kübel schon immer dort gestanden habe, gleich neben dem Aufgang zum Stall der Tiere. Manchmal habe sie ihn geleert. Aber er sei außerhalb des Spielbereichs der Kinder gewesen. Am Stall hielten sich die Kinder normalerweise nicht allein auf. Dass Luca gestorben sei, tue ihr unendlich leid.

Die Betroffenen tragen schwer an ihrer Schuld, die Richter urteilen meist milde

Fahrlässige Tötung - viele Verfahren dazu sind Verkehrsunfälle. Im Bereich der Erziehung sind sie eher selten. Das Landgericht Frankfurt (Oder) sprach im März 2013 zwei Erzieherinnen in zweiter Instanz der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte sie zu je zehn Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Oberlandesgericht Koblenz hat 2010 ein Urteil gegen zwei Erzieherinnen bestätigt. Bei einem Waldspaziergang hatten sich Kinder auf einen Baumstamm gesetzt, der war gerutscht und hatte ein Mädchen überrollt, die Sechsjährige starb. Die Erzieherinnen erhielten eine Verwarnung mit Strafvorbehalt. Milde Urteile. Fast so, als sähen die Richter kein Bedürfnis mehr nach Strafe, weil die Betroffenen gestraft genug sind.

Im Gerichtssaal im Minden wird diskutiert, wie lang der Weg aus dem Stall nach draußen war, acht Meter vielleicht, wie lang der Junge im Maurerkübel gelegen hat, vier Minuten oder länger, ob nur seine Jacke nass war oder auch die Hose, ob er also ganz reingefallen ist oder nur mit dem Kopf. Es werden Fotos vom Gelände betrachtet. Die Kollegin der Angeklagten kommt, sie war zum Zeitpunkt des Geschehens im Haus, sie wollte ein Mädchen beruhigen. Sie arbeitet jetzt in einem Dekorationsgeschäft. Die Polizisten und der Notarzt, alle bestürzt.

Die Anhörung dauert Stunden, es folgen die Plädoyers. Die Staatsanwältin fordert 90 Tagessätze zu jeweils zehn Euro. Die Verteidigerin stellt keinen Strafantrag, sie hofft, dass der Richter ein angemessenes Urteil für ihre Mandantin findet. Der Richter folgt dann der Forderung des Anwalts der Eltern. Er verurteilt die Frau zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung. Sie hätte auf den Jungen aufpassen müssen, der an diesem Tag das jüngste Kind in der Gruppe war. Sie hätte den Maurerkübel wegräumen oder abdecken müssen. Hat sie nicht. Die Verteidigung ließ offen, ob sie das Urteil annehmen wird.

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