Süddeutsche Zeitung

Prozess gegen Oscar Pistorius:Urteilsverkündung geht am Freitag weiter

Lesezeit: 4 min

Mord und Totschlag hat Richterin Masipa bereits ausgeschlossen. Ist Oscar Pistorius also der fahrlässigen Tötung von Reeva Steenkamp schuldig - oder am Ende freizusprechen? Erst am Freitag wird es darüber Klarheit geben.

Von Lena Jakat

  • Vor dem High Court in Pretoria hat Richterin Thokozile Masipa damit begonnen, ihr Urteil gegen Oscar Pistorius zu verkünden. Doch sie macht es spannend: Ihre Entscheidung will die Richterin erst am Freitag verkünden.
  • Eine erste Sensation hielt der Donnerstag jedoch schon bereit: Masipa schloss eine Verurteilung weges Mordes oder wegen Totschlags aus. Im Raum steht nun eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung - oder ein Freispruch, was jedoch unwahrscheinlich erscheint.
  • Richterin Masipa demontiert in ihren Ausführungen die Argumentation der Staatsanwaltschaft, die Pistorius vorwirft, Steenkamp nach einem Streit erschossen zu haben.

Das Urteil: wohl am Freitag

Überraschend vertagt Richterin Masipa den Prozess auf Freitag. An diesem Donnerstag werden weder der Angeklagte noch die Welt erfahren, zu welchem Urteil sie gekommen ist. Da gemäß der südafrikanischen Gepflogenheiten anders als in Deutschland das Urteil erst am Ende der Ausführungen verkündet wird, war es ein äußerst spannender Verhandlungstag - die erhoffte Auflösung in Form der Gerichtsentscheidung blieb aus.

Die Entscheidung: Richterin schließt Mord und Totschlag aus

Der Vormittag im Gauteng High Court ging mit einem Knall zu Ende: Richterin Masipa schließt eine Verurteilung wegen Mordes - premeditated murder - ebenso aus wie wegen Totschlags - murder. Oscar Pistorius habe seine Freundin Reeva Steenkamp in der Nacht zum Valentinstag 2013 mit vier Schüssen durch die Badezimmertür weder töten wollen noch habe er ihren Tod in Kauf genommen. Als mögliches Urteil steht nun noch der Tatvorwurf der fahrlässigen Tötung - culpable homicide - im Raum - oder gar Freispruch.

Die Reaktionen: Wut und Entsetzen

Twitter schäumt über von ersten - überwiegend wütenden - Reaktionen auf den bisherigen Verlauf der Urteilsverkündung. Dass Pistorius des Mordes und des Totschlags nicht schuldig sei, wird als "schlechter Scherz", als "Lüge" aufgefasst. Masipas Entscheidung sei "lächerlich", "absolut widerlich", heißt es in vielen Kurznachrichten. Vor dem Gerichtsgebäude protestieren auch an diesem Donnerstag Aktivisten gegen Gewalt gegen Frauen.

Die Version des Angeklagten: Widersprüchlich

Und deswegen geht Richterin Thokozile Masipa Oscar Pistorius' Aussage detailliert durch, zitiert etliche Gelegenheiten, zu denen er sich selbst zur Frage des Vorsatzes geäußert hat: Steenkamps Tod sei "ein Unfall" gewesen. "Ich feuerte vier Schüsse auf die Tür, bevor ich wusste, wie mir geschah", er könne sich nicht erinnern, er habe nicht nachgedacht.

Doch hätte Pistorius nicht damit rechnen müssen, die Person in der Toilette zu töten? Oder hat er es doch beabsichtigt? "Wir haben es hier mit einem Überfluss an Verteidigungsstrategien zu tun", sagt Masipa. "Der Angeklagte hat sich aus meiner Sicht widersprochen." Masipa geht ein Argument der Verteidigung nach dem anderen durch:

  • Schuldunfähigkeit: Konnte Pistorius zwischen richtig und falsch unterscheiden, als er schoss? Masipa zitiert aus dem psychiatrischen Gutachten, das im Verlauf des Prozesses angefertigt wurde: Pistorius ist voll schuldfähig.
  • Reflex: Die Verteidigung argumentiert, dass Pistorius nicht für eine Reflexhandlung verurteilt werden könne. "Ich folge dem nicht", sagt Masipa. Pistorius habe bewusst gehandelt.
  • Notwehr: Das Gericht akzeptiere, dass Pistorius jemand sei, der sich eher wehrte, als zu fliehen, sagt Masipa. Die Absicht zu schießen sei nicht Dasselbe wie die Absicht zu töten. Sie könne auch nachvollziehen, dass der Angeklagte sich aufgrund seiner Behinderung verletzlich fühle. "Aber ich will rasch hinzufügen, dass er darin nicht einzigartig ist", sagt Masipa: Frauen, Kinder, ältere Menschen, Behinderte seien oft in ähnlichen Situationen.

Die Version der Staatsanwaltschaft: nicht überzeugend

Die Staatsanwaltschaft um Chefankläger Gerrie Nel wirft Oscar Pistorius vor, seine Freundin Reeva Steenkamp nach einem Streit ermordet zu haben. Punkt für Punkt demontiert Richterin Masipa Nels Argumentation:

  • Die Schreie Die vier Schüsse, die Reeva Steenkamp töteten, wurden nach Überzeugung des Gerichts so rasch hintereinander abgegeben, dass die 30-Jährige "nicht schreien konnte". Entsprechende Zeugenaussagen seien unglaubwürdig, sagt Masipa.
  • Die Beziehung Die Staatsanwaltschaft zitierte aus WhatsApp-Nachrichten, die sich Steenkamp und Pistorius schickten und die belegen sollten, dass es Probleme zwischen den beiden gab, ja, dass sich Steenkamp vor ihrem Freund fürchtete. "Diese Nachrichten beweisen überhaupt nichts", sagt Masipa.
  • Das Handy Warum nahm Reeva Steenkamp ihr Mobiltelefon mit, als sie zur Toilette ging? Weil sie vor dem Angeklagten flüchtete? Dafür gebe es mehrere mögliche Gründe, sagt Masipa. Zum Beispiel, um in der Toilette Licht zu haben, wo die Lampe defekt war. Noch ein Minuspunkt für Nel und sein Team.
  • Der Mageninhalt des Opfers Die Anklage stützte sich auf die Aussage eines Gerichtsmediziners, wonach Steenkamp womöglich kurz vor ihrem Tod noch etwas gegessen hat - was der Version der Verteidigung widerspricht. Selbst falls das der Fall gewesen sei, sagt Masipa: irrelevant.
  • Der Streit Schließlich gebe es keine verlässliche Zeugenaussage, die einen Streit zwischen dem Paar belegen würde, sagt Masipa.

Die Zeugen: nicht zuverlässig

Wie verlässlich sind Aussagen von Zeugen, die mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochschreckten? Die mit ihren Partnern über den Fall sprachen, bevor sie ihre Aussage im Gericht machten? Und die in einem Prozess aussagten, aus dem jedes Detail, jede noch so kleine Volte live und umfassend von den Medien in die Öffentlichkeit getragen wurde? Überhaupt nicht verlässlich, urteilt Richterin Masipa. "Dieses Gericht hat das Glück, über Technologie zu verfügen, die verlässlicher ist als menschliche Wahrnehmung." Masipa führt Schritt für Schritt durch die Chronologie der Ereignisse, wie sie sich aus Telefonverbindungsdaten ergibt.

Das Publikum: Anspannung hält an

Neben den zahllosen Journalisten füllten am Donnerstag auch Anhänger des Paralympics-Athleten den Gerichtssaal, dazwischen Jura-Studenten und Angehörige des Angeklagten sowie der getöteten Reeva Steenkamp. Barry, der Vater des getöteten Models, das am 14. Februar 2013 starb, war wegen gesundheitlicher Probleme zu den Plädoyers erstmals ins Gericht gekommen und saß auch an diesem Donnerstag in der für die Familie reservierten Bank. Pistorius' Bruder Carl verfolgt die Urteilsverkündung in einem Rollstuhl. Nach einem schweren Autounfall lag er lange auf der Intensivstation, es war unklar, ob er zur Urteilsverkündung überhaupt hier sein würde können.

Sie alle werden am Freitag in den Gauteng High Court von Pretoria zurückkommen, um das Urteil gegen Oscar Pistorius zu hören. Zwar scheint Masipas Argumentation vom Donnerstag auf eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung hinauszulaufen. Aber auch ein Freispruch ist nach wie vor möglich. Offen ist auch das Strafmaß - es wird erst in einigen Wochen verkündet werden.

Linktipps:

Welchen Entscheidungen muss sich Richterin Masipa stellen? Wer sind die beiden Assessoren, die ihr zur Seite stehen? Neun Fragen zum Urteil.

Er steht dem aggressiven Chefankläger Gerrie Nel in Nichts nach: Lesen Sie hier ein Porträt von Pistorius' Strafverteidiger Barry Roux.

Am Anfang fielen vier Schüsse: Hier finden Sie eine Chronologie der Ereignisse seit der Tatnacht.

"Der Moment der alles veränderte": Lesen Sie hier nach, wie der Angeklagte selbst den Ablauf der Tatnacht schilderte.

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