Prozess gegen Oscar Pistorius:Depressiv, suizidgefährdet, postraumatisch belastet

Vor Gericht in Pretoria werden erste Auszüge aus dem psychiatrischen Gutachten verlesen, das die Schuldfähigkeit von Oscar Pistorius untersuchen soll. Eine Expertin sieht das Dokument als große Hilfe für die Verteidigung des Sportlers.

Die Erkenntnisse, die Kelly Phelps, die Justizexpertin des US-Senders CNN frei übersetzt als "Elfmeter vor leerem Tor" für die Verteidigung bezeichnet, wurden beim Pistorius-Prozess am Montag zunächst nur mit wenigen Sätzen abgehandelt. Nein, der Angeklagte Oscar Pistorius habe nicht an einer psychischen Krankheit gelitten, die sein Handeln in der Tatnacht beeinflusst hätte. Punkt.

Verteidigung und Staatsanwaltschaft gaben zu Protokoll, die grundsätzlichen Schlussfolgerungen des Gutachtens zu akzeptieren. Das Dokument werde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal thematisiert.

Dieser Zeitpunkt kam nun doch sehr rasch. An diesem Mittwoch verlas Pistorius' Verteidiger Barry Roux Auszüge aus dem Expertengutachten. Demnach leidet der Sportler an posttraumatischem Stress und ist dazu suizidgefährdet.

Allerdings ließen sich aus Pistorius' Biografie keine abnormalen Aggressionsneigungen oder psychopathische Tendenzen ableiten, die mit "wutinduzierten Tötungsdelikten gegenüber nahestehenden Personen" in Verbindung gebracht werden könnten.

"Normal" aus der Sicht eines Menschen mit Pistorius' Geschichte

"Pistorius ist von den Ereignissen zutiefst traumatisiert. Er betrauert auch den Verlust von Frau Steenkamp", heißt es in dem Bericht der Psychiater. Pistorius sei bereits in Behandlung und diese solle auch fortgesetzt werden. Andernfalls drohe eine Verschlechterung seines Zustandes.

Wie der CNN-Reporter schreibt, scheinen die Psychiater Pistorius' Version der Erkenntnisse für plausibel zu halten. Die Einschätzung des Angeklagten, körperlich bedroht zu sein, "mag aus der Sicht eines nicht behindeten Menschen übertrieben erscheinen. Aus der Sicht eines Menschen mit Pistorius' Geschichte erscheint sie allerdings schlüssig", schreiben die Experten in ihrem Gutachten.

Pistorius wird vorgeworfen, Reeva Steenkamp am 14. Februar 2013 bewusst und vorsätzlich durch die geschlossene Badezimmertür erschossen zu haben. Der Angeklagte behauptet dagegen, er habe hinter der Tür einen Einbrecher vermutet und sich und Steenkamp schützen wollen.

Weitere Zeugen der Verteidigung schilderten am Mittwoch, dem 36. Verhandlungstag, Details über die Beziehung des Angeklagten zu seiner Freundin, seine Ängste vor Kriminalität und seine Unsicherheit wegen der Behinderung. Es wird erwartet, dass die Zeugenbefragungen diese Woche noch beendet werden. Nach einer mehrwöchigen Pause sollen dann Verteidigung und Staatsanwaltschaft ihre Plädoyers halten.

Weil eindeutige Beweise fehlen, wird die Richterin am Ende entscheiden müssen, welche Version der Wahrheit nach den Indizien im Prozess für sie plausibler ist. Sollte Pistorius wegen Mordes verurteilt werden, droht ihm eine Haftstrafe zwischen 15 Jahren und lebenslänglich. Falls er nur wegen vorsätzlicher Tötung schuldig gesprochen wird, dürfte die Haftstrafe niedriger ausfallen. Und schließlich ist für Pistorius auch ein Freispruch möglich.

Linktipps:

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