Prozess gegen Krankenpfleger:Motiv: Langeweile

Prozess gegen ehemaligen Krankenpfleger

Krankenpfleger Niels H. mit seiner Anwältin im Gericht Oldenburg im September 2014.

(Foto: dpa)
  • Ein 38-jähriger Krankenpfleger steht wegen mehrfachen Mordes von Patienten vor Gericht.
  • Ein Gutachten legt nahe, dass der Mann womöglich schon zu einem früheren Zeitpunkt in einer anderen Klinik Kranke getötet hat.
  • Obwohl man bereits in der ersten Klinik Verdacht schöpfte, wurde niemand gewarnt.

Von Christina Berndt

Der Auftritt fiel Dirk Tenzer spürbar schwer. Er sei "persönlich zutiefst schockiert", sagte der Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg am Dienstag der Presse. Der Krankenpfleger Niels H., der derzeit wegen Mordes an drei Patienten im Klinikum Delmenhorst vor Gericht steht, habe womöglich auch in Oldenburg Schwerkranke getötet.

Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten, das das Klinikum Oldenburg in Auftrag gegeben hat. Denn bevor H. im Jahr 2003 seine Stelle in Delmenhorst antrat, hatte er dreieinhalb Jahre lang in Oldenburg gearbeitet. "Bei uns hat es zwölf Sterbefälle gegeben, bei denen alles darauf hindeutet, dass es ein Eingreifen von außen gegeben hat", sagt Tenzer. "Darüber sind wir zutiefst erschüttert."

Sollten sich die Vorwürfe erhärten, ist H. in Oldenburg anders vorgegangen als in Delmenhorst. Dort soll der 38-Jährige zwischen 2003 und 2005 seinen Patienten eine Überdosis des Medikaments Gilurytmal verabreicht haben, das Herzrhythmusstörungen auslösen kann.

Wegen Mordes an einer 61-jährigen Frau sowie an zwei Männern im Alter von 78 und 44 Jahren steht er seit September vor Gericht. Zudem erhebt die Staatsanwaltschaft den Vorwurf des versuchten Mordes an zwei über 80-jährigen Patienten. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen: H. könnte in weitere 100 Todesfälle verwickelt sein, so die Staatsanwaltschaft. Bisher schwieg der Angeklagte zu den Vorwürfen.

Frühere Haftstrafe wegen eines Mordversuchs

Schon 2008 war er allerdings wegen eines Mordversuchs zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden: Im Jahr 2005 hatte eine Krankenschwester einen Delmenhorster Patienten, der plötzlich Herzrhythmusstörungen erlitt, gerade noch gerettet.

Nun hat der Hildesheimer Anästhesieprofessor Georg von Knobelsdorff die Akten von 57 Patienten des Klinikums Oldenburg ausgewertet, die allesamt während der Dienstzeit von Niels H. starben. Bei zwölf von ihnen kam es laut dem Gutachten, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, vor dem Tod zu einem extremen Anstieg an Kalium im Blut.

Kalium könne Herzrhythmusstörungen auslösen, so Knobelsdorff. In sieben Fällen sei eindeutig von einer Fremdeinwirkung auszugehen, in fünf weiteren sei diese wahrscheinlich.

Frühere Arbeitgeber müssen sich dem Gutachten zufolge nicht sorgen. Denn H. hat wohl erst in Oldenburg mit seinen gefährlichen Medikamentengaben begonnen. Bis zum Jahr 2000 seien keine verdächtigen Fälle aufgetreten, so Tenzer.

Der Angeklagte wollte sich wohl als Retter aufspielen

Womöglich ging es Niels H. gar nicht darum, die Kranken zu töten. Er wollte sich der Anklage zufolge im Kampf um Leben und Tod als Retter aufspielen und seine Fertigkeiten bei der Reanimation unter Beweis stellen. H. habe aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen gehandelt, sagte die Staatsanwältin zum Prozessauftakt. Sein Motiv sei unter anderem Langeweile gewesen.

Mit mehr Umsicht hätten sich Todesfälle aber womöglich verhindern lassen: Niels H. war seinen Kollegen schon in Oldenburg unangenehm aufgefallen. So unangenehm, dass man ihn loswerden wollte. In Notfallsituationen habe er "ein Verhalten wie auf dem Fußballplatz gezeigt", sagte Tenzer. So habe er sich in den Vordergrund gedrängt und war "regelrecht süchtig nach Anerkennung".

Schon während der Tätigkeit von Niels H. hat es zudem klinikinterne "Untersuchungen zu hohen Kaliumspiegeln zu Beginn der Reanimation" gegeben, wie der Klinik-Geschäftsführer einräumte. "Auch gab es Diskussionen - zumeist hinter vorgehaltener Hand -, dass die Reanimationen angestiegen seien und dies immer dort, wo Herr H. gearbeitet habe."

Tenzer betonte aber auch: "Es konnte kein Beweis geführt werden." Schließlich seien alle Patienten todkrank gewesen. "Und es war für viele undenkbar, dass jemand aus unseren Reihen solche Taten begehen könnte."

Warnungen an künftige Arbeitgeber blieben aus

Gleichwohl wurde H. zunächst innerhalb des Klinikums versetzt, dann wurde ein Auflösungsvertrag mit ihm geschlossen. H. erhielt ein ordentliches Zeugnis, etwas anderes sei arbeitsrechtlich gar nicht denkbar gewesen, sagte Tenzer.

Dennoch trage das Klinikum Oldenburg eine Mitverantwortung für die Vorgänge, betonte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. "Machen wir uns klar: Nirgendwo kann ein Serienmörder so unbehelligt sein Unwesen treiben wie im Krankenhaus oder Pflegeheim. Denn der Tod ist hier allgegenwärtig." Umso mehr müssten Auffälligkeiten dazu führen, "dass Selbstreinigungskräfte einsetzen".

Der Fall erinnert an Vorkommnisse im Münchner Klinikum Großhadern: Dort war im Sommer 2014 eine Hebamme im Kreißsaal verhaftet worden, die über Monate hinweg vier Gebärenden so hohe Dosen eines Gerinnungshemmers verabreicht hatte, dass die Frauen bei der Geburt fast verbluteten.

Von ihrer früheren Arbeitsstelle im Taunus hatte die Hebamme "ein normales Arbeitszeugnis" bekommen, sagte Karl-Walter Jauch, Ärztlicher Direktor in Großhadern. Allerdings hatte der Ex-Chef die Münchner vor der Frau gewarnt: Sie soll schon im Taunus eigenmächtig Medikamente verabreicht haben.

Am Klinikum Oldenburg gibt es inzwischen mehr Kontrollen: So werden seit einigen Jahren ein "Beinahe-Unfall-Meldesystem" geführt und Sterberaten überwacht. Nach außen aber passierte nichts: Als man am Klinikum erfuhr, dass Niels H. bald einen neuen Job antreten würde, hat offenbar niemand seinen künftigen Arbeitgeber gewarnt. "Wir waren letztlich froh, dass er weg war", gibt Tenzer zu.

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