Süddeutsche Zeitung

Prozess gegen Gaffer:Wenn Schaulustige sich schuldig machen

Ein krasses Beispiel für die Auswüchse des Voyeurismus: Sie haben Rettungskräfte behindert, Polizisten angegriffen und einen Unfall gefilmt, bei dem zwei Menschen starben. Jetzt stehen die drei Männer vor Gericht.

Von Peter Burghardt, Bremervörde

"Gaffer stehen ab morgen vor Gericht", so stand es auf der Titelseite einer Lokalzeitung vom Tag zuvor. Zwei der drei Angeklagten verdeckten mit der Ausgabe ihr Gesicht, als sie am Donnerstagmorgen das Amtsgericht Bremervörde betraten, um sich vor Kameraleuten und Fotografen zu verbergen. Wegen des inoffiziellen Mottos dieses Prozesses war ja allerhand los in dem gewöhnlich wohl beschaulichen Backsteinbau. Vor dem Saal kam es kurz zu Tumulten.

Rein formell begann zwar nur der Prozess gegen drei Männer im Alter von 20, 25 und 35 Jahren, die im Juli 2015 nach einem Unfall in der niedersächsischen Kleinstadt sehr handgreiflich mit der Polizei gestritten hatten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bedrohung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und versuchte Nötigung vor. Verhandelt wird nach dem Jugendstrafrecht, einer der mutmaßlichen Täter war zur Tatzeit 19 Jahre alt. Doch es geht vor allem um einen Fall, der bundesweit für Entsetzen gesorgt hatte und der entscheidend dazu beitragen könnte, dass die Regeln an Unglücksorten verschärft werden. Es geht auch um die Frage, was sich Neugierige in Notlagen erlauben dürfen.

Für die Tragödie an sich konnten Mohammed A., Omar A. und Ezzedin A. damals nichts. In ihrem stillen Wohnort Bremervörde, 20 000 Einwohner, raste im Sommer vergangenen Jahres eine 59-jährige Frau mit ihrem Auto ungebremst in die Eisdiele "Pinocchio", tötete eine 65-Jährige und ein zweijähriges Kind und verletzte mehrere Menschen. Die Fahrerin, so heißt es, habe seinerzeit ihre Medikamente nicht genommen und einen epileptischen Anfall erlitten. Einzelheiten müssen erst geklärt werden, der Fall wird voraussichtlich im November vor den Richter kommen. Aber schon jetzt soll die Schuld von drei Schaulustigen geprüft werden.

Etliche Passanten eilten damals herbei, als die Toten und Verletzten noch geborgen wurden. Omar A. soll in der abgesperrten Zone sein Handy gezückt und gefilmt haben, obwohl ihm das umgehend untersagt wurde, es folgten Rangeleien. "Und dich werde ich umbringen", rief er laut der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft einem Polizisten zu. "Ich werde Waffen mitbringen, und dann regle ich das." Einen Beamten nahm er demnach in den Schwitzkasten und beschädigte dessen Brille. Der Uniformierte, nun als Zeuge geladen, zog sich unter anderem eine Zerrung zu und war eine Woche lang krankgeschrieben.

Die Verhandlung wird nach der Verlesung der Anklage vertagt

"Wie von Sinnen" habe sich Omar A. auch gewehrt, als Feuerwehrmänner ihn unter Kontrolle bringen wollten, so die Justiz; Fotos illustrieren die Szene. Mohammed A. und Ezzedin A. - mutmaßlich seine Brüder, doch die genauen Verwandtschaftsverhältnisse blieben vor Gericht unklar - griffen anscheinend ein. Als Omar A. sein Telefon von der Polizei zurückverlangte, soll Ezzedin A. einem Polizisten gedroht haben, ihn "fertigzumachen".

Gleich nach Verlesung des Straftatbestandes wurde die Verhandlung allerdings bereits unterbrochen und vertagt, denn die Verteidiger brachten eine überraschende Variante mit: Sie berichteten, dass ihre Mandanten mit den Betreibern des Eiscafés "gut bekannt" gewesen und "aus Sorge um die Opfer" dort vorstellig geworden seien. Möglicherweise hätten die Einsatzkräfte dann "überreagiert." Alle Beteiligten seien überfordert gewesen, so ein Anwalt, das habe zu dieser "etwas unglücklichen Situation" geführt. Deshalb solle jetzt erst die Hauptakte des Unfalls geprüft werden.

Dem Wunsch schloss sich die Jugendrichterin Swantje Gerdes-Franski nach kurzer Beratung an und verschob die Fortsetzung auf einen unbestimmten Termin. Erst sollen die weiteren Hintergründe geklärt werden - von einer angeblichen Nähe der Verdächtigen zu den Geschädigten war vorher keine Rede gewesen. Die Eisdielenbesitzer wissen selbst nichts davon.

So oder so gilt die Causa Bremervörde inzwischen als Paradebeispiel für die Auswüchse des Voyeurismus nach Unfällen und könnte gesetzliche Folgen haben. Das Problem der Gaffer nehme zu, bedauerte im NDR Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. "Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Menschen mit ihren Smartphones unterwegs sind und Geschichten erzählen wollen." Es gab weitere Exzesse wie im Mai in Hagen, als 150 Zuschauer Polizei und Feuerwehr im Weg waren. Schaulust ist nicht neu, doch der Umgang mit Smartphones und sozialen Netzwerken hat das Phänomen erheblich verschärft.

Malchow verlangt Konsequenzen. Strafbar ist außer unterlassener Hilfeleistung vorläufig nur Gewalt wie in Bremervörde. Rücksichtslosigkeit oder Neugierde sind es nicht. Noch nicht. Paragraf 201a des Strafgesetzbuchs schreibt nur vor, dass Aufnahmen hilfloser lebender Menschen nicht erstellt und verbreitet werden dürfen.

Gaffer behindern die Rettungsarbeiten

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius wünscht sich Abschreckung. Man habe in Bremervörde oder in Hagen gesehen, "wie Bilder wehrloser Unfallopfer ins Netz gestellt oder die Rettungsarbeiten teils live gestreamt werden - und zwar ausschließlich, um sich wichtig zu machen", vermutet der SPD-Politiker. Wenn Rettungsarbeiten gestört würden oder Bilder der Opfer im Internet landeten, müsse das härter bestraft werden. Niedersachsen hat über den Bundesrat eine Gesetzesinitiative angeregt: Wer Helfer behindert, soll eine Geldbuße zahlen oder gar ins Gefängnis.

Auch das Handy könnte künftig leichter beschlagnahmt werden.

Bei den Beschuldigten von Bremervörde gelten zwei Jahre Haft als maximales Strafmaß. Von den beiden Inhabern des "Pinocchio" werden sie auf Anfrage nicht entlastet, die sind verblüfft von der Version der Anwälte. Sie hätten die drei Angeklagten zwar gekannt, wie so viele Kunden in Bremervörde, wo fast jeder jeden kennt - mehr nicht, sagt die Wirtin und löffelt an der Theke Eis in Waffeln. Freunde seien es nicht. Außerdem hätte sie sich während der Rettungsarbeiten "mehr Respekt" von den dreien erwartet. Der Wirt mag am liebsten gar nicht mehr über das Unglück sprechen, es hat ihm genug zugesetzt.

Er wurde seinerzeit selbst verletzt. Nachher mussten sie ihr "Pinocchio" an der Neuen Straße schließen, im Mai 2016 wurde an der Alten Straße wieder eröffnet. Den beiden wäre es recht, wenn die Prozesse bald vorbei wären.

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SZ vom 30.09.2016/biho
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