Prozess-Ende im Fall Kevin:Fürsorge mit Todesfolge

Kevin, zwei Jahre alt, im Kühlschrank gefunden - er war Mündel des Jugendamtes, nun müssen die Richter die Schuld des Stiefvaters bemessen.

Ralf Wiegand

Bremen - Wenn sie ihm Kevin wegnähmen, hat Bernd K. bei Zeiten gedroht, dann würde ihn Bremen kennenlernen. "Dann werde ich berühmt." Niemand dürfe ihn von Kevin trennen.

Prozess-Ende im Fall Kevin: Der Grabstein des zweijährigen Kevins auf dem Waller  Friedhof in Bremen.

Der Grabstein des zweijährigen Kevins auf dem Waller Friedhof in Bremen.

(Foto: Foto: dpa)

Es gehört zu den tragischen Momenten dieser Geschichte, dass tatsächlich niemand Bernd K. und Kevin getrennt hat. Keine Behörde hat gewagt, dem drogensüchtigen, massigen Mann das Häuflein Mensch wegzunehmen, einen schmächtigen Jungen, der in seiner Entwicklung zurück war und dessen Mutter nicht mehr lebte. Trotz aller Probleme, Bernd K. hat Kevin nie hergeben müssen.

Trotzdem ist er berühmt geworden. Und Kevin ist tot.

An diesem Donnerstag entscheidet die SchwurgerichtskammerII am Landgericht Bremen über die Strafe, die Bernd K. für den Tod Kevins zu erwarten hat. Nicht einmal die Verteidigung zweifelt, dass K. Kevins Tod verursacht hat. Aber niemand weiß wie, niemand wann. Und doch: Es gibt eine Erklärung, warum das alles geschah. Sie hat mit der Sehnsucht und der Unfähigkeit zu tun, ein besserer Mensch zu sein.

Im Gericht hat Bernd K., 44, während der Beweisaufnahme beharrlich geschwiegen, seit Oktober 2007, als die Verhandlung gegen ihn begann. Geredet hat er aber in Hannover-Langenhagen, 14Stunden. Zweimal haben ihn Justizbeamte ins Büro von Gunther Kruse gebracht, ins Haus 5 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erster Stock. Kruse ist Chefarzt und Gutachter für die Schuldfähigkeit K.s. Die Beamten haben K. mit Fußfesseln an einen Sessel gebunden. Dann gingen sie ins Wartezimmer. "Er saß genau da, wo Sie jetzt sitzen", sagt Kruse.

Kevin ist längst zu einem Symbol geworden für den Kinderschutz in Deutschland. Bremen, die ganze Stadt, hat sich dafür geschämt, dass Kevins Leiche, eingewickelt in drei Müllsäcke und mehrere Decken, im Kühlschrank einer Wohnung im Haus Kulmer Straße 97, Stadtteil Gröpelingen, gelegen hatte.

Der Prozess hat ergeben, dass er wahrscheinlich im Mai 2006 starb, spätestens im August. Die Leiche wurde am 10. Oktober 2006 gefunden, als Kevin in ein Kinderheim gebracht werden sollte. Die verschiedenen Stellen bei Jugend- und Sozialamt und das Familiengericht hatten noch immer darüber verhandelt, was mit ihm geschehen sollte, als er schon lange tot war. Es klingt wie die Buße einer Stadt, wenn Bremen nun eine Bundesratsinitiative startet, damit Kinderrechte in die Verfassung geschrieben werden.

Dass Kevin in staatlicher Obhut starb - das Jugendamt war sein Vormund -, hat die Dimension des öffentlichen Skandals abgesteckt. Vor diesem Hintergrund musste das Gericht das Geschehen auf die persönliche Schuld des Angeklagten reduzieren. Die Frage ist ja auch: Wie viel persönliche Schuld hat ein alleinerziehender, drogensüchtiger Krimineller, der in Kontakt zu allen relevanten Behörden steht, die ihn trotz seiner Probleme immer wieder Vater sein lassen? Hätte er wirklich, wie Staatsanwalt Daniel Heinke findet, seine eigene Gefährlichkeit erkennen müssen, wenn die Fachleute sie nicht erkannten? Musste ihm, wie der Staatsanwalt sagt, "klar sein, dass es zu solch einer Tat kommen konnte"?

Gunther Kruse, der Gutachter aus Hannover, ist Experte für Sucht. Als der Angeklagte Bernd K. in seinem Büro saß, "wühlte ich in seiner Biographie", sagt Kruse. Sie redeten über alles, nur nicht über die Tat. Das habe die Verteidigung verlangt, sagt Kruse, das sei selten. Er habe den Eindruck gehabt, dass der Angeklagte sogar reden wollte, letztlich musste er ihn an den anwaltlichen Rat erinnern, es nicht zu tun. "Er hat sich hier nicht prozesstaktisch verhalten."

Berd K. - in Braunschweig geboren - wächst als Einzelkind zunächst recht behütet auf, die Eltern betreiben einen Gemüseladen. Doch dann fängt der Vater an zu saufen, und Bernd lernt früh die Achterbahn eines Süchtigen kennen, auf der er selbst einmal fahren wird. In guten, den trockenen Phasen des Vaters lebt die Familie ein ganz normales Leben, die Eltern gehen mit dem Jungen sonntags sogar spazieren.

Eine fatale Sehnsucht

Doch die Rückfälle sind grauenhaft, nehmen selbstmörderische Formen an. Der Vater ruiniert die geschäftliche Existenz. Am 13.Geburtstag seines Sohnes schluckt er das Pflanzengift E605, stirbt qualvoll. Die Mutter wechselt die Stadt, geht eine Beziehung ein, K. bekommt einen Bruder. Er selbst beginnt kurz nach dem Tod des Vaters zu trinken, "Bier und Jägermeister", sagt Anwalt Thomas Becker. Die Mutter finanziert einen Internatsaufenthalt, aber die kleinkriminelle Karriere läuft schon. In Haft kommt K. mit harten Drogen in Kontakt. Insgesamt 13 Jahre verbringt er hinter Gittern, meistens wegen Eigentumsdelikten.

Im Knast ist er ein Anführertyp, klüger als die anderen, auch stärker. Draußen in Freiheit deutet K. in den drogenfreien Phasen seines Lebens an, was er zu leisten imstande wäre: Er wird stellvertretender Lagerleiter bei Edeka und fliegt nicht einmal raus, als der Chef von seinen Vorstrafen erfährt, die K. verschwiegen hatte - er macht seinen Job gut. 2003 kommt Bernd K., inzwischen nach Bremen gezogen, mit Sandra zusammen. Sie sei "ein Model" gewesen, erzählt er.

In Bremen kursieren dagegen Bilder eines menschlichen Wracks. Wie sie im Steintor, dem Drogenrevier der Stadt, im Rinnstein gesessen und unversehrte Venen in der Beinbeuge gesucht hat für die nächste Spritze. Weil K. spürt, dass Kruse ihm Sandras Schönheit nicht abgenommen hat, schreibt er ihm aus dem Gefängnis einen Brief: Er müsse ihm glauben, sie war ein Model!

"Bernd K. wollte eine Familie haben, das hat er nicht geschafft", sagt Anwalt Becker. Nach Ansicht seiner Verteidiger war K. es, der die Drogensucht in der Familie kontrollierte und die Substitutionsprogramme einhalten wollte. Sandra habe das immer wieder gebrochen. K. behauptet, als Sandra schwanger wurde, habe er gewusst, dass das Kind nicht von ihm stammte. Angeblich wurde sie vergewaltigt. Sie ist HIV-positiv. Als Liebesbeweis habe er dem Baby seinen Namen gegeben: Kevin-Bernd wird am 23. Januar 2004 geboren. Der Anwalt, der der Familie damals hilft, Kevin gegen die Bedenken des Jugendamts mit nach Hause nehmen zu dürfen, ist Thomas Becker, K.s jetziger Strafverteidiger.

Die kleine Familie funktioniert nicht. Mehrmals muss die Polizei einschreiten, weil Sandra K. völlig zugedröhnt Kevin in Gefahr zu bringen droht. Im Treppenhaus mit ihm einschläft. Ihn auf der Straße in die Luft wirft. Im Kinderkrankenhaus werden Knochenbrüche dokumentiert, Schädel, Rippen, Gelenke, Unterarme. Immer wieder kommt Kevin nach Hause zurück. Als Sandra erneut schwanger wird, freut K. sich auf ein eigenes Kind. Es soll Joshua heißen, doch der Sohn kommt 2005 tot zur Welt. Im November desselben Jahres stirbt auch Sandra. Zunächst glaubt man an eine Schuld ihres Lebensgefährten, aber die Ermittlungen stocken. Kevin, nun zwar ein Mündel des Jugendamtes, kommt zu einem Mann, der nicht einmal sein Vater ist und überdies im Verdacht steht, einen Menschen getötet zu haben.

Der Mensch ist zu komplex, um nicht alles sein zu können: liebender Vater und Kindsmörder gleichzeitig. K. kämpft mit allen Mitteln um seinen Jungen, denn das Kind ist das Einzige, wofür er noch verantwortlich ist. Er manipuliert die Beamten auf den Behörden. Als Drogensüchtiger ist er Abhängiger, vom Stoff an sich, von der Geldbeschaffung - immer nur nehmen. Als Vater muss er geben, sorgen, sich kümmern. Viele Süchtige haben deswegen einen Hund. Fürsorge vermenschlicht und wertet auf. Überdies hat es einen konkreten Vorteil, Vater zu sein: Behörden sind dann spendabler; da bekommt man schon mal einen Vorschuss, wo andere Mittelempfänger barsch nach Hause geschickt werden.

Joshua und Sandra tot, der Traum von der bügerlichen Existenz geplatzt - danach, sagt die Verteidigung, sei K.s Drogenkonsum eskaliert. Alle Versuche, Anschluss zu finden an etwas wie Familie, scheitern. Weihnachten 2005 fährt K. mit Kevin zu Mutter und Bruder, es kommt zu einer Prügelei zwischen den Männern. K. wird am Weihnachtsabend am Bahnhof in Hannover aufgegriffen, mit Kevin und mit einer Schreckschusspistole. Er darf einfach mit dem letzten Zug nach Hause fahren - mit Kevin. Nie hat sein Handeln in Bezug auf Kevin Konsequenzen. Mal hilft ihm sein Arzt, das Kind behalten zu können, mal entscheidet das Jugendamt für ihn, ohne Kevin gesehen zu haben. Zeugen schildern K. als durchaus fürsorglichen Vater. Kevin sei etwa "jahreszeitlich entsprechend gekleidet" gewesen, heißt es dann. "Er schob ihm eine Lasagne in den Ofen", sagte ein Zeuge.

Und dann, im Mai 2006 oder danach, passiert, was später in eine Flut von medizinischen Gutachten mündet. 24Knochenbrüche erlitt Kevin in seinem Leben, die letzten fünf kurz vor seinem Tod, durch stumpfe Gewalt. Unter anderem 17 Ärzten, zwei Biochemikern und drei Toxikologen gelang es aber letztlich nicht, die exakte Todesursache zu ermitteln. Wahrscheinlich war es ein Herzstillstand durch Fettembolie, hervorgerufen durch aus den offenen Markhöhlen austretende Fetttröpfchen. Die finstersten Momente dieses Prozesses sind die, in denen über eine "Faulleiche" gesprochen wird oder Experten fachsimpeln, wie Knochen brechen, wenn ein Kind in einen Kühlschrank gestopft wird.

In letzter Konsequenz

Für Gunther Kruse ist es kein Widerspruch, dass Bernd K. den Tod von Kevin bedauerte - in seinem Schlusswort vor Gericht, der einzigen öffentlichen Äußerung in sechs Monaten, sprach er von "drastischer Reue" - und mit dem Leichnam im Kühlschrank dennoch monatelang lebte. Süchtige, sagt Kruse, verschieben alles Unangenehme auf morgen. Sie leeren den Briefkasten nicht, weil eine Rechnung dabei sein könnte; sie ziehen manchmal nicht einmal die Klospülung. Solange Kevin da war, niemand von seinem Tod wusste, ging K.s Leben einfach weiter wie immer. Ohne Konsequenzen.

Gutachter Kruse kann eine verminderte Schuldfähigkeit bei K. wegen seiner suchtbedingten eingeschränkten Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen. Der Staatsanwalt forderte 13 Jahre Haft,wegen Mordes. Die Anwälte plädierten auf Körperverletzung und empfahlen keine Haftdauer, sondern eine angemessene Strafe, damit der Angeklagte das Geschehene verarbeiten könne.

Einmal, als wieder die Wegnahme Kevins drohte, soll K. gesagt haben: Ich werde mir das Kind nicht wegnehmen lassen. Ich werde es vorher erlösen.Der Angeklagte wirkt nicht, als sei er der Meinung, das Richtige getan zu haben.

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