Prozess:Eine nicht vorhersehbare Tat

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Der Vater des Schützen von Winnenden scheitert mit einer Klage gegen Ärzte.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Tim K. war sich selbst nicht geheuer, das weiß man aus den Ermittlungsakten zum Amoklauf von Winnenden. Schon 2006, als 14-Jähriger, suchte er im Internet nach Informationen über psychische Erkrankungen. Anfang 2008 vertraute er seiner Mutter an, er vermute bei sich eine "bipolare Störung". Sie vermittelte ihm mehrere Termine in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Weinsberg nahe Heilbronn. Wurde dort die Gelegenheit versäumt, den Jugendlichen zu stoppen auf seinem Weg zur monströsen Tat am 11. März 2009? In dieser Frage hat am Dienstag das Landgericht Heilbronn ein Urteil gefällt. Demnach sind die Therapeuten und das Klinikum nicht haftbar zu machen. Jörg K., der Vater des Amokläufers, scheiterte mit seiner Schadenersatzklage in Höhe von mehreren Millionen Euro.

Tim K. hatte den Ärzten erzählt, er spüre "Hass auf die Menschheit"

Tim K. hat an der Albertville-Realschule in Winnenden und auf seiner Flucht 15 Menschen und am Ende sich selbst erschossen. Der Vater, ein Sportschütze, wurde zu einer Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt, weil er Tatwaffe und Munition nicht ausreichend gesichert habe. Die Hälfte der Schadenersatzzahlungen, die Jörg K. an Verletzte, an Hinterbliebene der Toten, die Stadt Winnenden und die Unfallkasse zu leisten hat, wollte er nun auf die Klinik abwälzen. Dort war seinem Sohn eine "soziale Phobie" attestiert worden - eine krankhafte Schüchternheit. Das war nach Expertenmeinung ein fragwürdiger Befund.

Tim K. habe eher unter einer "Persönlichkeitsstörung" gelitten, sagte der als Gutachter bestellte Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt, während der Verhandlung. Der junge Mann hatte schon in seinem ersten Gespräch in Weinsberg berichtet, er spüre "Hass auf die gesamte Menschheit"; seine Gedanken kreisten darum, "Menschen umzubringen". Das Protokoll vermerkt in einem Klammerzusatz: "alle erschießen". Der Gutachter warf den Therapeuten vor, nicht nachgefragt zu haben, ob Tim K. Zugang zu Waffen habe. Außerdem rügte er, dass keine Sexualanamnese erhoben worden sei. Ob sich der Amoklauf gezielt gegen Frauen richtete, wird bis heute heftig diskutiert.

Grobe Behandlungsfehler warf der Gutachter der Klinik aber nicht vor. Und eine Diagnose, die zweifelsfrei auf einen bevorstehenden Amoklauf schließen lasse, gebe es ohnehin nicht, so der Psychiater. Der Meinung schloss sich das Gericht nun an. Selbst wenn die Ärzte gewusst hätten, dass Tim K. Zugang zu Waffen hatte, hätte dies "nicht den Rückschluss zugelassen, dass eine Amoktat im Raum steht", heißt es in der Urteilsbegründung. Zu einer Therapie kam es nicht mehr. Der Vater ließ den Sohn an seiner Waffenleidenschaft teilhaben. Die Pistole, mit der Tim auf Menschenjagd ging, lag offen und frei zugänglich im Kleiderschrank der Eltern.

Jörg K., der sich nach eigenen Angaben am Ende seiner finanziellen Belastbarkeit sieht, war zu der Verhandlung in Heilbronn nicht erschienen. Ob er gegen das Urteil Berufung einlegen wird, hat er nach Auskunft seines Anwalts noch nicht entschieden.

© SZ vom 27.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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