Protokolle aus den Niederlanden:"Plötzlich fühlte sich das alles unglaublich nah an"

Flower tribute for MH17 crash victims at airport Eindhoven

Die Frage nach dem "Warum" (hier Blumen auf dem Flughafen von Eindhoven) lässt die meisten Niederländer ratlos zurück.

(Foto: dpa)

Fast jeder in den Niederlanden kennt jemanden, der durch den Abschuss von MH17 einen geliebten Angehörigen verloren hat. Über den Umgang mit dem Unfassbaren.

Von Felicitas Kock und Oliver Klasen

Der Abschuss von MH17, bei dem fast 200 Niederländer ihr Leben verloren haben, ist jetzt schon fast eine Woche her. Doch erst in den vergangenen beiden Tagen hat die Welt wahrgenommen, was die Katastrophe in diesem Land ausgelöst hat. Eine ganze Nation steht unter Schock - und verneigt sich vor dem Opfern.

Man konnte das sehen am Mittwochnachmittag, der zum nationalen Trauertag ausgerufen wurde, dem ersten, den es seit 1962 gab, als Königin Wilhelmina gestorben war: Autofahrer hielten am Straßenrand an, Züge stoppten auf freier Strecke, Menschen verharrten auf den Straßen und Plätzen. Selbst Schwimmbadbesucher kletterten aus dem Wasser und versammelten sich stumm am Beckenrand. Und das niederländische Fernsehen übertrug die Bilder aus Eindhoven, wo per Transportflugzeug die Särge von niederländischen Opfern ankamen. Eine Stunde lang Bilder, ohne einen einzigen Kommentar.

Süddeutsche.de hat mit Menschen in den Niederlanden gesprochen, die alle mehr oder weniger von den Ereignissen betroffen sind. Vier Protokolle über den Umgang mit dem Unfassbaren.

Shera van Lingen, 27, Eventmanagerin aus Den Haag:

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"Es hat lange gedauert, bis ich das Ausmaß der Katastrophe begriffen habe", sagt die 27-jährige Shera van Lingen aus Den Haag.

"Ich kenne Flug MH17 sehr gut. Meine Eltern, die aus Indonesien stammen, nehmen ihn jedes Jahr im September, um in den Urlaub zu fliegen. Der Abschuss des Flugzeugs ist in unserer Familie daher ein großes Thema, wir sprechen über unsere Trauer, unsere Wut und unser Gefühl, die Tragödie nicht fassen zu können.

Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren kann - wie jemand einen Fehler begehen kann, der 298 Menschen das Leben kostet. Glückliche Menschen, die auf dem Weg in die Ferien waren und die jetzt einfach nicht mehr existieren. Freunde meiner Familie waren an Bord der Maschine, ein Ehepaar mit zwei Kindern, der Vater arbeitete für Malaysia Airlines. In sozialen Netzwerken ist außerdem das Bild eines jungen Mannes aufgetaucht, der bei dem Unglück getötet wurde. Ich habe ihn gleich erkannt. Er hat im selben Gebäude gearbeitet wie ich und war mit mehreren meiner Freunde befreundet.

Es hat lange gedauert, bis ich das Ausmaß der Katastrophe begriffen habe. Zum ersten Mal hörte ich in der Wohnung meines Freundes davon. Der Fernseher lief und es war von einem Flugzeugabsturz die Rede. Aber es war ein heißer Tag, alle waren auf dem Weg nach draußen, wir sind in den Park gegangen und haben gepicknickt. Abends waren wir auf einer Hochzeit eingeladen. Auf dem Weg dorthin haben wir im Radio einen kurzen Bericht über den Absturz gehört, aber es gab erst einmal kaum Informationen. Wir hatten einen schönen Abend.

Erst am nächsten Morgen im Büro hat es mich getroffen: Die vielen Menschen, die vielen Kinder, die gestorben sind. Wir sind so ein kleines Land und 193 Einwohner zu verlieren, ist eine ernsthafte Tragödie. Während ich diese Zeilen schreibe, laufen im Radio Berichte über die Maschine, die die ersten Opfer zurück in die Niederlande gebracht hat.

Ich habe am nationalen Tag der Trauer, den die Regierung ausgerufen hat, auch in sozialen Netzwerken viel Veränderung gesehen. Viele Menschen haben aus Respekt ihr Profilbild geändert. Auch meines ist jetzt einfach schwarz. Eine gute und ehrliche Geste, die etwas aussagt, ohne dass Worte nötig sind."

Kees van Boven, 61, Arzt für Allgemeinmedizin

"Ich war zu Hause und hab mir im Fernsehen die Radfahrer bei der Tour de France angesehen, als plötzlich eine Eilmeldung kam. Das erste, was ich fühlte, war ein tiefes Mitgefühl. Wie schlimm muss es jetzt all denjenigen ergehen, die Familienmitglieder oder Freunde in dem Flugzeug hatten?

Die Rede unseres Außenministers vor der UN-Vollversammlung war sehr wichtig, denke ich. Auch unser Ministerpräsident hat angemessen reagiert. Und ich fand es bewunderswert, mit welch großem Respekt wir gestern den nationalen Trauertag begangen haben. Nur eine Sache hat mich irritiert, als ich die Nachrichten im Fernsehen gesehen habe. Es gab Bilder, die den Eindruck erweckt haben, als hätten sich alle Menschen in der Ukraine gegenüber den Toten unsensibel verhalten. Das glaube ich nicht, da wurde ein falscher Eindruck erzeugt.

Ich bin nicht sicher, was dieses Ereignis langfristig für die Niederlande bedeuten wird. Aber sicher ist, dass sich angesichts dessen ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat.

"Trauer und soziale Medien funktionieren nur sehr schlecht zusammen"

Boudewijn van der Wel, 21, Medizinstudent aus Rotterdam

"Als das Unglück passierte, war ich zuhause. Ein Freund rief mich an und sagte, ich solle die Nachrichten anstellen. Was ich sah, wirkte sehr surreal, ich war schockiert von den Bildern des Absturzes. Ich wusste ja von der schwierigen Situation in der Ukraine, aber plötzlich fühlte sich das alles unglaublich nah an.

Die Menschen in den Niederlanden sind gerade vor allem traurig. Fast jeder kennt jemanden, der durch das Flugzeugunglück ein Familienmitglied oder einen Freund verloren hat. Meine Eltern leben in einem sehr kleinen Dorf und ein junges Mädchen von dort war an Bord der Maschine. Auch der Bekannte eines Kollegen von mir befand sich im Flugzeug. Ich selbst habe niemanden gekannt. Ich habe als erstes an meinen Bruder gedacht, der gerade durch Asien reist und vor ein paar Wochen einen ähnlichen Flug genommen hat.

Ich weiß, dass viele nicht zufrieden waren mit der zurückhaltenden Art, mit der unsere Regierung auf den Absturz reagiert hat. Ich finde aber, Ministerpräsident Mark Rutte macht einen sehr guten Job. Seine Reaktion war absolut angemessen und professionell. Trotzdem verstehe ich die Menschen, die sich über das Verhalten der ukrainischen Separatisten beschweren. Ich selbst bin ziemlich wütend darüber, dass sie die Ermittler behindert und Beweise zerstört haben sollen. Das Unglück ist das schwerste in der niederländischen Luftfahrtgeschichte. Es wird unser Land noch lange beschäftigen."

Sara Willems*, 24, Studentin aus Amsterdam

"Ich war mit meiner Familie im Urlaub in Israel, als wir von dem Flugzeugabsturz erfuhren. Meiner Schwester fiel ein, dass ihr Hausmädchen an dem Tag mit ihrer Familie nach Kuala Lumpur fliegen wollte. Sie wusste nicht mit welcher Maschine, also gab es noch Hoffnung. Bis meine Schwester den Onkel des Mädchens anrief, der auf dem Computer der Familie die Reiseunterlagen fand - für den Mittagsflug. Das war ein unglaublicher Schock für uns, vor allem für meine Schwester. Auch eine frühere Schulkameradin von mir und ein Kollege meiner Mutter waren an Bord.

Anfangs waren die Menschen hier vor allem traurig. Dann folgte die Wut auf unsere Politiker, die sehr zurückhaltend und politisch korrekt agierten. Für viele zu korrekt - die Leute forderten eine emotionalere Reaktion, erst recht als die Separatisten die Ermittlungen behinderten und die Rückführung der Toten immer weiter hinauszögerten. Gleichzeitig wissen wir natürlich, dass die Niederlande sehr klein und abhängig von Wirtschaftsbeziehungen zu größeren Staaten sind - auch zu Russland. Es ist riskant, die Regierung in Moskau zu verstimmen. Aber als unser Außenminister Timmermans seine emotionale Rede vor dem UN-Sicherheitsrat hielt, hat das viele besänftigt.

Was ich befremdlich finde, ist das Gebaren vieler meiner Landsleute in sozialen Netzwerken. Es ist eine schöne Geste, Beileidsbekundungen auf die Facebook-Seite eines Menschen zu schreiben, der gestorben ist. Aber manche rücken sich jetzt selbst in den Mittelpunkt, mit Geschichten über Bekannte von Bekannten von Bekannten, die an Bord des Flugzeugs waren. Trauer und soziale Medien funktionieren nur sehr schlecht zusammen.

Auf Twitter tauchte zum Beispiel das Foto eines Reisepasses auf, der am Absturzort gefunden wurde. Er gehörte der Mutter des Hausmädchens meiner Schwester. Das Bild geisterte durch die sozialen Netzwerke, lange bevor die Passagierlisten offiziell bestätigt wurden.

Der Reporter eines niederländischen Nachrichtensenders ist über das ukrainische Feld gelaufen, auf dem die Maschine abgestürzt ist. Er hat aus den Notizen einiger niederländischer Passagiere vorgelesen und über dort niedergeschriebene Urlaubspläne berichtet. Später hat sich der Sender entschuldigt - aber so etwas geht doch nicht! Viele Menschen wollen sich dieses schreckliche Unglück irgendwie zu Eigen machen. Die Privatsphäre der Opfer wird nicht geachtet. Das finde ich schwer zu ertragen."

* Name von der Redaktion geändert

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