Das lateinische "prominentia" steht für das Herausragende, und es ist eigentlich herausragend komisch, dass es die Grundlage für einen Begriff bildet, den der TV-Sender Sat 1 sich in dieser Woche wieder mal für sein Format "Promi Big Brother" ausgeliehen hat. Der Titel suggeriert, bei den sogenannten Kandidaten namens Lilo von Kiesenwetter, Janine Pink oder Jürgen Trovato handele es sich im Sinne des Wortes "Prominenz" um Namen von besonderer Bekanntheit. Trotzdem würden sehr viele Zuschauer bei diesen angeblich Prominenten wohl sagen: Hä? Kenn ich nicht!
Die Prominenz im Namen der Sendung steht in Wahrheit lediglich für die Möglichkeit von Prominenz: Die Menschen, die ins Studiohaus einziehen, sind nicht sonderlich bekannt. Im Gegenteil eint sie die Hoffnung, nach der Sendung vielleicht so etwas wie TV-Prominenz zu bekommen - sodass man nachher sagen kann: Sie sind bekannt aus "Promi Big Brother".
Es gibt nicht mehr die große Masse und die eindeutig Herausragenden
Die Idee von Stars und Bekanntheit verändert sich gerade grundlegend. Die Vorstellung dessen, was als Mainstream zu gelten hat, verschiebt sich: Prominenz demokratisiert sich durch das Internet. Es gibt nicht mehr die große Masse und die eindeutig Herausragenden - das Zeitalter der Gottschalks ist vorbei, es gibt nur wenige Namen, die überall bekannt sind. Das führt immer wieder zu Wer-ist-das-denn-Momenten. Für den letzten großen Moment dieser Art sorgte Rezo. Er war in der deutschen Youtube-Welt längst berühmt, bevor ihn der Rest Deutschlands googelte, um zu erfahren, wer dieser Mensch ist, der die CDU da plötzlich derart in Bedrängnis bringt.
Auch der Musikindustrie scheint die eine große Bühne zu fehlen, auf die alle schauen und deren Protagonisten überall erkannt werden. Der Kulturkritiker Gerrit Bartels beschrieb die Spitze der deutschen Musikcharts im Tagesspiegel unlängst als "ein Paralleluniversum eigener Art". Denn die dort gelisteten Musiker - zumeist Deutschrapper - erreichen zwar hohe Abrufzahlen im Netz, aber kaum gesellschaftliche Bekanntheit.
Reichweite ist auf Instagram und Co. kein objektiver Wert
2018 war im dritten Jahr in Folge ein Mann an der Spitze der meistgestreamten Künstler, der außerhalb der Deutschrap-Szene eher kein Star ist: RAF Camora heißt mit bürgerlichem Namen Raphael Ragucci und ist in den vergangenen zwei Wochen mit zwei unterschiedlichen Songs jeweils auf Platz zwei der deutschen Singlecharts eingestiegen ("Neptun" mit KC Rebell und "Nummer" gemeinsam mit Ufo361). Bartels im Tagesspiegel: "Selbst in Kreisen, die der Popmusik nicht ganz fern stehen, stößt man oft auf Kopfschütteln: Nie gehört, heißt es dann."
1,6 Millionen Accounts folgen RAF Camora auf Instagram. Das ist eine beachtliche Zahl, deren wirkliche Bedeutung allerdings nur Instagram abschätzen kann. Denn die Reichweiten, die auch Plattformen wie Youtube oder Twitter angeben, um Bekanntheit zu begründen, sind keine objektiven Werte, sie werden von den Plattformen selbst erhoben und auch nur von ihnen überprüft. Trotzdem sind sie heutzutage oft das einzige Hilfsmittel, um zu erklären, dass jemand prominent ist. Früher hätte man jemanden wie Rezo einen Publizisten genannt, heute begründet man die Autorität, aus der heraus er spricht, zunächst mit den Abrufzahlen seiner Videos.
Die britische Werbeaufsicht hat auf Basis solcher Zahlen jetzt sogar eine Art Schwellenwert für Berühmtheit ermittelt. Sie sollte ergründen, ob eine Bloggerin Werbung für Medikamente machen darf; Prominenten ist das nämlich untersagt. Sie durfte nicht, denn mit 30 000 Followern gilt man als berühmt. Sie wurde mit ihren 37 000 Fans also gleichgesetzt mit Victoria Beckham und ihren 26 Millionen.
In der Unterhaltungsindustrie geht es heute um Nischen
Nimmt man diese britische Grenze zum Maßstab, dann gab es Ende Juli auf Einladung von Instagram ein echtes Prominententreffen in Kalifornien - mit lauter Menschen, die zumindest im deutschen Mainstream kaum bekannt sind. Die Fotoplattform und Facebook-Tochter hatte 500 ihrer reichweitenstärksten Nutzerinnen und Nutzer zum sogenannten Instabeach geladen. Eine exklusive Veranstaltung, die zur Vernetzung der Netzwerk-Stars dienen sollte. Erstmals war auch die Presse zugelassen, und das Magazin The Atlantic zitiert einen jungen Influencer, der sich auf der Prominenten-Party am Strand ein wenig so fühlte wie manche beim Anschauen von "Promi Big Brother": Er kannte die anderen Insta-Promis gar nicht. "Es gibt eine unausgesprochene Trennung. Wir sind zwar alle auf Instagram, aber wir leben in unterschiedlichen Welten und Blasen."
Chris Anderson würde diese Einschätzung sehr gefallen. Sie bestätigt, was der Autor in seinem Buch "The Long Tail - Der lange Schwanz" vorausgesagt hat: "Während sich in der Unterhaltungsindustrie des 20. Jahrhunderts alles um Hits drehte, geht es in der des 21. Jahrhunderts um Nischen." Wobei der Begriff Nische etwas irreführend sein kann: Darin können sich nämlich durchaus jeweils mehrere Millionen Follower sammeln. Nischen müssen also nicht klein sein, sie sind aber vor allem eins nicht mehr: der Tanker, der mit Hits des 20. Jahrhunderts den breiten Mainstream-Fluss befährt.
Vielleicht kann man die veränderte Perspektive auf Prominenz tatsächlich am besten mit diesem Bild aus der Flussschifffart beschreiben: Der Strom, der ja schon rein sprachlich das Vorbild für die im Begriff Mainstream gefasste Idee von gesellschaftlicher Bekanntheit ist, hat sich aufgespalten. Dort, wo früher ein breiter, reißender Mainstream-Strom ins Meer mündete, spaltet sich heute ein feingliedriges Flussdelta mit unzähligen Mündungsarmen auf. Das Wasser, das dieser ehemals mächtige Fluss nun führt, wird dadurch völlig neu verteilt - wie die Aufmerksamkeit in der segmentierten Öffentlichkeit. Wer hier bekannt werden will, kann nicht mehr auf den Tanker hoffen.