Private Sammlung:Der Mann ist dem Zahnsinn verfallen

Dentalmuseum zeigt älteste Zahnarztpraxis der Welt

Andreas Haesler, 55, ist gelernter Zahntechniker. Seine Leidenschaft für die Geheimnisse der Mundhöhle hat ihn zu einer umfangreichen Sammlung inspiriert.

(Foto: privat)
  • Andreas Haesler hat in einem sächsischen Dorf die größte Privatsammlung zur Zahngesundheit zusammengetragen.
  • Mehr als 100 Tonnen Material umfasst das Museum des gelernten Zahntechnikers, für das er 15 Jahre lang gesammelt hat.
  • Ein Professor aus Moskau will die Sammlung nach Russland bringen. Doch auch aus Ostasien melden sich Interessenten.

Von Cornelius Pollmer

"Es passiert etwas in Europa", sagt Andreas Haesler, und man müsste ihn genau jetzt unterbrechen, um auf das konkrete europäische Geschehen in seiner rechten Hand hinzuweisen, wo gerade eine Fürst-Pückler-Eisschnitte traurig ihrem Ende entgegentropft. Aber Haesler ist selbst im Fluss, er redet seit bald drei Stunden, und weil er gerade mal wieder beim Kern eines Kerns eines Problems angekommen ist, schweigt man und lässt sich erzählen, warum Haesler mit ihm über es gesprochen hat.

Ihm, das ist "der Professor aus Moskau", der vor einer Weile in Berlin landete, sich samt Gepäck und Dolmetscher in ein Taxi verlud und dann zu Haesler nach Zschadraß fuhr, einem Ortsteil von Colditz, Landkreis Leipzig. In Zschadraß hat der Zahntechniker Andreas Haesler nämlich es zusammengetragen, die vermutlich größte dentalhistorische Sammlung der Welt. Auf einem Drittel des 10 000 Quadratmeter großen Grundstücks betreibt Haesler Museum und Depot zur Kunst- und Medizingeschichte der Zähne. Seine vier Klinkerbauten nennt er die "Quadriga Dentaria", den Gesamtkomplex gerne "Arche Dentaria".

Denn das ist ja die Idee: In den vergangenen 25 Jahren sei mehr Wissen verloren gegangen als in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, sagt Haesler, deswegen baut er an seiner Arche, deren Ladung praktisch jede Woche wächst. 100 Tonnen Material sind schon zusammengekommen, Zähne und Zahnarztstühle, Kataloge und Kittel, Schränke und Schmuck. Ausgestellt sind davon weniger als ein Prozent.

"Wollen wir das Museum nach Moskau bringen?"

Mehrere Stunden führte Haesler den Professor aus Moskau durchs Museum, danach schaute er seinem Gast in die Augen und sagte "So, und jetzt gehen wir zur Wahrheit!" - ins Depot also, zu den 99 Prozent. Der Professor? "War völlig breit", sagt Haesler mit der schwer kontrollierbaren Freude eines Enthusiasten. Ob es ihm gefallen habe, wollte Haesler schließlich wissen. Der Professor fragte zurück: "Wollen wir das Museum nach Moskau bringen?"

Um die Perspektive von Haeslers Sammlung erahnen zu können, muss man ihre Gegenwart kennen. 2000 Besucher zählt das auch durch Spenden finanzierte Haus im Jahr, das Zehnfache hat Andreas Haesler als Ziel ausgegeben. Wer vier Euro Eintritt zahlt, erlebt eine Sammlung, die mehr mit Reichtum als mit Stringenz für sich wirbt, dies aber so gewaltig, dass man irgendwann voller Begeisterung kapituliert. 300 000 Kilometer ist Haesler durch Europa gefahren, um in Museen oder Haushaltsauflösungen Zahnsinniges einzusammeln.

Auf dem Dachboden eines Zahnarztes im Südwesten Deutschlands entdeckte er eine Kiste voller Zähne, über 50 Jahre gesammelt und aufs Ekelhafteste von Getier befallen. Auch Haesler ekelte sich erst, nach einer Blitzkur mit Wasserstoffperoxid blieb nur noch Schwärmen. "Wunderbare Zahnanomalien" habe er in der Kiste entdeckt, und herrlichen Zahnstein, denn "Zahnstein ist ja eine geobiologische Kapsel, das sind Artefakte, anhand derer wir herausfinden können, wenn jemand an einem Virus gestorben ist."

Keine echten Zähne, sondern solche aus Kunststoff und Porzellan wiederum wurden für ein Mosaik verwendet, das Haesler 2009 akquirierte - 16 650 normalgroße Zähne bilden an der Wand nun einen sehr großen Zahn. Nebenan hat Haesler in mehr als 3500 Arbeitsstunden das Sprech- und Studierzimmer von Philipp Pfaff rekonstruiert, dem Königlich-Preußischen Hofzahnarzt von Friedrich dem Großen, den er aber wohl nie wirklich behandelt hat.

Zahnweitspucken für Kinder - und eine dentale Madonna

Andreas Haesler führt an all dem mit derselben Selbstverständlichkeit vorbei, mit der er etwa alle sieben Schritte einen Superlativ hervorzaubert. "Es ist nicht Deutschlands größte Sammlung, nicht Europas größte Sammlung - es ist die weltgrößte Sammlung", sagt Haesler im Gehen, kurzer Stopp, Zeigefinger, "die ganze Welt wird zusammen nicht mehr haben als wir hier." Eine Ecke weiter ist von Wien oder Hiddensee die Rede, wo demnächst mal wieder eine "einmalige Gelegenheit, also, weltweit!" sich bieten werde, und das ist dann schon wieder eine Variation von Haeslers Lieblingssatz: "Weltweit wird es nichts Vergleichbares geben."

Es lagert in diesem Sprechen und Denken ein gesunder Wahnsinn, wie es ihn vermutlich viel zu wenig gibt in diesem Land. Und der Wahnsinn ist bei Andreas Haesler lange noch nicht aufgebraucht. Gerade hat er unter dem Motto "Einen Zahn zulegen" ein Zahnweitspucken für Kinder veranstaltet - demnächst will er die Sixtinische Madonna fachgerecht nachbauen: Statt der Madonna wird Apollonia zum Einsatz kommen, die Schutzheilige der Zahnmediziner, und statt der beiden Putten zu ihren Füßen sollen zwei Zahnwehengel ins Bild gehoben werden. Am liebsten würde Haesler das natürlich in einem Neubau präsentieren, zu seiner Maximalversion der Zukunft gehört ein riesiger, weißer Backenzahn, dessen Errichtung in Zschadraß allerdings wenn nicht am Geld so doch am Denkmalschutz scheitern dürfte. Realistischer scheint die Idee eines "blauen Gewölbes", eines vierfach gewölbten Raumes mit Zapfen in der Mitte, an dem eine "Krone" und ein "Zahn" zum sichtbaren Wortspiel "Zahnkrone" verschmelzen sollen.

"Alle, die eine Zange halten konnten, haben sich als Zahnärzte aufgespielt"

Wer die Gedanken so frei und manchmal tief fliegen lässt, der sieht noch viel mehr. Dem in Weimar geborenen Haesler ist irgendwann aufgefallen, dass er sich im Tal der Mulde und somit "im einzigen Dentalkreis Europas" befindet, nämlich dem - Achtung: - Mul-dental-kreis. Das Silben-Würfeln ist Haesler insofern nachzusehen, als er in seinem historischen Exkurs auch realgeschichtliche Belege für die Dentalmacht Sachsen vorzubringen versteht.

Haesler eilt durch die ersten tausend Jahre Dentalgeschichte. Schmiede und Tischler seien zu Beginn als Mundhöhlenforscher aufgetreten, im Grunde hätten "alle, die eine Zange halten konnten, sich als Zahnärzte aufgespielt". Im Barock wiederum gab es "eine Riesensauerei", weil Zähne nicht geputzt, sondern nur mit Schwämmchen abgetupft wurden. Im späten 19. Jahrhundert dampfte erstmals Lachgas zur "Zahnschmerzausschaltung" - Haesler sagt, "da gab es richtige Lachgaspartys, das waren die Kiffer von damals".

So geht es klappernden Kiefers durch die Jahrhunderte, bis Haesler endlich von der Zeit- in die Regionalschiene und damit nach Sachsen wechselt. Bekannt ist, dass Karl August Lingner die Mundpflege demokratisierte und mit Odol ein Mundwasser herstellte, das bezahlbar war und mit massiver Werbung zum Erfolg getrieben wurde. Belohnung: ein Elbschloss für Lingner in Dresden. Bekannt ist auch, dass Ottomar von Mayenburg in Dresden Lingners Erfolg mit der Zahnpasta Chlorodont wiederholte. Belohnung: din Elbschloss für Mayenburg in Dresden.

"Dresden war eine Dentalhochburg", sagt Andreas Haesler, vermarktungstechnisch aber plant er seinen größten Coup mit Mittweida, einer Kreisstadt in Mittelsachsen. Dort wurde um 1530 das erste Buch in deutscher Sprache zur Zahnheilkunde herausgegeben, seinen unbekannten Verfasser nennt Haesler "den Luther der Zahnheilkunde". Im Jahr 2030 jährt sich ungefähr das Erscheinen von "Artzney Buchlein, wider allerlei kranckeyten und gebrechen der zeen", ein paar Jahre vorher will Haesler in die Vollen gehen und pro domo eine Art Dentallutherdekade anzetteln.

Andreas Haesler selbst nennt sein Museum einen "Wahnsinn"

2030 wird Haeslers Museum dann schon in Russland stehen? "So weit bin ich noch nicht, ich lasse das noch offen", sagt er. Die Chinesen und die Japaner, die würden sein Museum auch nehmen, "sofort, die nehmen alles", aber eigentlich will Haesler ja gar nicht weg, aus Zschadraß, aus Sachsen. "Man ist ein Zentrum geworden", sagt er. Nach 15 Jahren Aufbauarbeit müsse er nicht mehr suchen, er werde gefunden. Und Andreas Haesler ist davon noch immer überwältigt: "Es ist eigentlich nicht möglich, was hier möglich war. Es ist eigentlich ein Wahnsinn."

Aber er sei ja auch nur zu Gast auf der Erde, und wenn man sich so sehr aufopfere für eine Sache, dann stelle sich schon die Frage, wie es damit einmal weitergehen wird. Und da, sagt Haesler, sei die Rechnung eine einfache: "Wenn in Deutschland oder in Europa keiner mehr bereit ist, so ein Haus zu erhalten, ja, dann muss ich nach Moskau." Denn die größte Furcht hat Andreas Haesler vor jenem Frevel, den er gerade in anderen europäischen Museen beobachtet und von dem sein Museum gerade noch profitiert. "Entsammlung", ein Wort wie Zahnschmerz.

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