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Film über den "britischen Schindler":Ein diskreter Held

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Britisches Understatement: Nicholas Winton verschwieg 50 Jahre lang, dass er 669 jüdische Kinder aus dem besetzten Prag rettete. Ausgerechnet in Deutschland ist der ehemalige Börsenmakler kaum bekannt, dabei hat er Beziehungen zum Land der Täter.

Klaus Brill, Prag

Womöglich ist es ihm gar nicht recht, dass jetzt um ihn so viel Aufhebens gemacht wird. Sir Nicholas Winton schaut jedenfalls ein wenig irritiert in den jubelnden Saal. Er hält die Hand über die Augen, um über die blitzenden Kameras hinweg die vielen Kinder zu sehen, die ihm da im Prager Kongresszentrum so enthusiastisch zuwinken. Eine Schulklasse springt auf die Bühne und umringt ihn, eine Übersetzerin kniet neben seinem Rollstuhl nieder. Dann nähert sich der Regisseur Matej Minac mit einem Mikrofon und fragt den Alten, was wohl an seiner Geschichte die jungen Leute so inspiriere.

"Es kann für sie eine Anleitung und ein Ansporn sein, was sie in Zukunft tun sollten", sagt Nicholas Winton. "In die Vergangenheit zurückzuschauen, macht nicht viel Sinn." Er spricht mit schwacher Stimme, und es schwingt die Verlegenheit eines britischen Gentleman mit, der zum Understatement neigt. Über seine hier so stürmisch beklatschte Tat hat er mehr als 50 Jahre lang geschwiegen - und jetzt wird er im biblischen Alter von 101 Jahren vom Ruhm überrollt.

Ähnlich wie der deutsche Manager Berthold Beitz, der sudetendeutsche Industrielle Oskar Schindler und der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg hat der Londoner Börsenhändler Nicholas Winton in der Nazi-Zeit im Alleingang 669 jüdische Kinder vor dem sicheren Tod im KZ gerettet. Es geschah 1939 in Prag, und deshalb fand jetzt auch in Prag die Weltpremiere eines Dokumentarfilms statt, in dem der slowakische Regisseur Matej Minac die Geschichte des Nicholas Winton und "seiner Kinder" erzählt.

Winton war 29 Jahre alt, als er im Spätherbst 1938 in Prag einen Freund besuchte, der dort bei der britischen Botschaft tätig war. Kurz zuvor, am 1. Oktober, war Hitlers Wehrmacht ins Sudetenland einmarschiert, das nach dem Münchner Abkommen dem Deutschen Reich angeschlossen worden war. Zahlreiche Tschechen und Juden flohen nach Prag und in andere Teile der Tschechoslowakei. Winton erfuhr durch seine Landsleute von der Not der Flüchtlinge und hörte, vor allem Kinder bedürften der Hilfe.

Ein Zug kam nicht an

So beschloss er, Transporte jüdischer Kinder nach Großbritannien zu organisieren. In seinem Hotel am Wenzelsplatz richtete er an einem Esstisch ein kleines Büro ein, bald meldeten sich jüdische Familien, die ihre Kinder in Sicherheit bringen wollten. Winton legte Listen an, verteilte Nummern, warb Helfer, organisierte Sonderzüge und suchte in England mit Zeitungsinseraten Gasteltern, die Kinder aufnehmen würden. In London arbeitete er mit einem tschechoslowakischen Flüchtlingskomittee und einem Reisebüro zusammen.

Tatsächlich gelang es, in acht Transporten durch Deutschland und Holland 669 jüdische Mädchen und Jungen nach Großbritannien zu bringen. Ein neunter Sonderzug sollte in Prag am 3. September 1939 losfahren. Zwei Tage vorher aber hatte mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen, und die Nazis, die nun auch in Prag als Besatzer herrschten, verhinderten die Abfahrt. Von keinem der 250 Kinder, die sich im Zug befanden, hat man je wieder etwas gehört.

Die meisten der Geretteten erfuhren nach dem Krieg, dass ihre zurückgebliebenen Verwandten in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet worden waren. Andere wie die heute 75-jährige Lisa Mittwinter, eine Zahnärztin, hatten das Glück, dass die Eltern ebenfalls fliehen konnten. Ihr Vater hatte, wie sie jetzt in Prag erzählte, in Teplice als Kinderarzt praktiziert und war entsetzt, als seine langjährigen sudetendeutschen Patienten sich nach dem Nazi-Einmarsch strikt von ihm abwandten.

Keines der überlebenden Kinder wusste, welche Rolle Nicholas Winton bei der Rettung gespielt hatte. Der schwieg so lange, bis 1988 seine Ehefrau auf dem Speicher des gemeinsamen Hauses in Maidenhead bei London die Listen mit den Nummern aus dem Jahr 1939 entdeckte.

Die britische BBC erfuhr von der Sache und forschte den Adressen der Kinder nach. Nicholas Winton wurde zu einer populären Sendung eingeladen, bei der zu seiner Überraschung auch zwei Dutzend der geretteten Kinder anwesend waren - inzwischen im Alter von Großeltern. Inzwischen haben sich insgesamt 261 der 669 Glücklichen gefunden, mehr als 400 aber sind bereits tot oder wissen möglicherweise noch immer nicht, wem sie das Überleben verdanken.

Sir Winton wurde mit seiner Geschichte berühmt, zunächst in Großbritannien und Tschechien. Die Queen schlug ihn zum Ritter, in Prag erhielt er einen hohen Orden, der Regisseur Matej Minac drehte zwei Filme. In Kunzak im Süden Tschechiens benannte sich eine Schule nach ihm und sammelte Unterschriften für eine Petition, man möge Winton den Friedensnobelpreis verleihen. 100.000 Kinder haben die Initiative bisher unterstützt, der stellvertretende tschechische Senatspräsident Premyl Sobota machte sie sich jetzt zu eigen und schlug Winton offiziell für die hohe Auszeichnung vor.

Nur in Deutschland ist der "britische Schindler" bisher kaum bekannt. Dabei liegen dort seine Wurzeln. Wintons Eltern, deutsche Juden, die ursprünglich Wertheim hießen, waren 1907, zwei Jahre vor seiner Geburt, nach England gezogen. Und Winton selbst hatte einst seine Banklehre unter anderem in Hamburg und Berlin absolviert.

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Quelle:
SZ vom 24.01.2011
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