Süddeutsche Zeitung

Gewalttat in Behinderten-Einrichtung:"Tiefe Traurigkeit und Angst vor dem Leben"

Lesezeit: 4 min

Ines R. soll im April vier Menschen in einer Potsdamer Behinderten-Einrichtung getötet haben. Es bestehen kaum Zweifel daran, dass sie die Tat begangen hat. Die Frage ist eher: Ist sie schuldfähig? Am ersten Prozesstag sagt sie über ihr schwieriges Leben aus.

Von Jan Heidtmann

Nachdem Ines R. ihren Auftritt im Saal acht des Landgerichts Potsdam hatte, kam der vermutlich schwierigste Teil dieses Prozesstages für die Angeklagte. Eine halbe Stunde lang schauten Ermittler, Richter, Staatsanwältin und Sachverständige durch die Fotos der blutigen Tat, die ihr vorgeworfen wird. Ines R., 52, lange blonde Haare, blaugrüne Bluse, bleibt dabei nichts anderes übrig, als stumm daneben zu sitzen. Manchmal nur wandert ihr Blick zu den Sitzbänken rechts von ihr, von wo aus die Zuschauer sie anstarren. Meist aber blickt sie mit verschränkten Armen regungslos nach vorn. Schon als Kind habe sie immer wieder das Gefühl gehabt, "nicht normal zu sein", hatte sie am Morgen erzählt. Das Gefühl, dass ihre Mitschüler sie merkwürdig gefunden hätten. "Ich habe mich dann zu Hause verkrochen."

Die Tat, um die es in dem Prozess geht, hat in ganz Deutschland Schlagzeilen gemacht. Am Abend des 28. April 2021 wurden in einer Pflegeeinrichtung in Potsdam, dem Thusnelda-von-Saldern-Haus, vier Menschen mit Behinderung, zwei Frauen und zwei Männer, mit einem Messer getötet und eine Frau schwer verletzt. Dringend tatverdächtig war von Beginn an Ines R., die seit mehr als 30 Jahren im Oberlinhaus als Pflegerin arbeitete - eine diakonische Einrichtung, zu der auch das Thusnelda-von-Saldern-Haus gehört. "Ihr war bewusst, dass es sich bei den fünf Geschädigten um schwerst behinderte Menschen handelte, die nicht in der Lage waren, sich zu wehren oder Hilfe zu rufen", referierte die Staatsanwältin zum Auftakt des Prozesses. Angeklagt ist Ines R. wegen vierfachen Mordes und versuchten Mordes.

Blutspuren an der Kleidung

Dass Ines R. die Täterin ist, daran besteht wenig Zweifel. Sie war an jenem Abend für die Getöteten als Pflegerin zuständig, zu Hause hat sie sich ihrem Ehemann offenbart, die Polizei hat "blutverdächtige Anhaftungen" an ihrer Kleidung gefunden. Verhandelt wird vielmehr die Frage, ob Ines R. schuldfähig ist oder nicht.

Glaubt man ihren Angaben, ist ihr Leben mindestens als schwierig zu bezeichnen. Auf seine ruhige und freundliche Art hatte der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter die Angeklagte gebeten, von sich zu erzählen. Sie könne einfach reden oder er könne ihr Fragen stellen: "Ich lege das in Ihre Hände."

Vor Ines R. liegt ein zerknitterter DIN-A4-Zettel, sie spricht von ihrer Kindheit in Potsdam, davon, dass sie ständig krank gewesen sei; von der Mutter, die sie eben nur nicht geschlagen habe, wenn sie krank gewesen sei. Bereits als Fünfjährige sei da in ihr diese "tiefe Traurigkeit und Angst vor dem Leben" gewesen, ständig habe sie Albträume gehabt und Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen. Ihre einzige Bezugsperson sei die Mutter gewesen, der Vater habe ihr keinen Halt geben können, auch die ältere Schwester nicht. Trotzdem sagt Ines R.: "Ich habe meine Mutter nicht gemocht."

Medikamente, Alkohol, Depressionen

Als sie neun war, trennten sich die Eltern, "mit elf Jahren wollte ich sterben". Im Alter von 14 unternahm sie ihren ersten Suizidversuch, mit 18 den nächsten. Dazwischen sei sie für längere Zeit in einer geschlossenen Abteilung untergebracht worden, wo ihr Beruhigungsmittel gespritzt worden seien. Der Mutter wurde damals gesagt, die Medikamente stammten aus der Bundesrepublik, tatsächlich habe die DDR hier Medikamente aus der Schweiz an Kindern ausprobiert. Dass Pharmafirmen aus dem Westen ihre Produkte in der DDR testen ließen, ist erwiesen.

Medikamente, Alkohol, Depressionen, Burnouts ziehen sich nach den Schilderungen von Ines R. durch ihr Leben. Bis heute nehme sie starke Pharmazeutika, die sie je nach Zustand immer wieder selbst dosiert habe.

Richter Horstkötter fragt sie schließlich, welche dieser Erlebnisse für sie die prägendsten, ja, die schlimmsten gewesen seien. Die Medikamente, die ihr gespritzt worden seien, antwortet Ines R., die Behinderung ihres ersten Sohnes. "Und der Gehirntumor von Olli", ihrem zweiten Sohn. So wie Ines R. es beschreibt, ist es ein Leben voller Katastrophen, von denen bereits eine schon zum tiefen Unglück ausreicht. Einziger Lichtblick sei ihre Arbeit als Pflegerin gewesen, 20 Jahre mit Kindern und Jugendlichen, elf Jahre mit Erwachsenen. "Mir selbst konnte ich nicht helfen", dafür habe sie anderen geholfen, sagt Ines R. Bis zuletzt habe ihr "diese Arbeit sehr viel Spaß gemacht". Sie habe nie ein "negatives Gefühl" gegenüber den Pflegebedürftigen gehegt.

Ihr Anwalt moniert die Arbeitsbedingungen im Oberlinhaus

Ihr Anwalt Henry Timm hatte schon vor Prozessbeginn angekündigt, auch die Arbeitsbedingungen im Oberlinhaus zum Thema machen zu wollen. Seine Mandantin sei dort "kaputt gespielt" worden, wie mehrere Burnouts belegten. "Ich habe alles für die Klienten getan", sagt Ines R. über sich selbst. Dass Ines R. eine gute Kollegin und Pflegerin gewesen sei, bestätigen auch Bewohner und Mitarbeiter des Thusnelda-von-Saldern-Hauses.

Sie berichtet, dass sie bei der Arbeit regelmäßig weit über ihre Grenzen hinausgegangen sei. Denn die Pflegeschichten auf ihrer Station im dritten Stock des Hauses waren nach ihren Angaben von jeher zu knapp bemessen. "Wenn wir zu dritt waren, war es in Ordnung", berichtet Ines R. "In letzter Zeit waren wir aber oft nur zu zweit." Anders als früher habe die Hausleitung dann keine zusätzlichen Kräfte angefordert. "Wochen vor meiner Tat sind keine mehr geholt worden." Anders als ihre Kolleginnen habe sie aber keine "Überlastungsanzeigen" gestellt. Denn was dann passiert wäre, sei ja klar gewesen: Sie könne sich ja eine neue Stelle suchen, hätte es dann geheißen.

Ein Bericht der staatlichen Heimaufsicht spricht gegen diese Darstellung von Ines R. Das Thusnelda-von-Saldern-Haus war einen Tag vor der Gewalttat geprüft worden. Dazu gehört auch, die Besetzung der Schichten zu kontrollieren. Die Heimaufsicht hatte nichts zu beanstanden.

Ines R. ist seit ihrer Festnahme in der forensischen Abteilung der Psychiatrie untergebracht. Für den Prozess sind noch neun weitere Verhandlungstage angesetzt.

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