"Sonntags bin ich ein Mofa - halb Mensch, halb Sofa." Dass Postkarten einmal für Sprüche wie diesen und andere tiefschürfende Lebensmottos herhalten müssen, hätten ihre Erfinder wohl nicht gedacht. Als vor 150 Jahren, am 1. Oktober 1869, die erste amtliche Postkarte in Österreich-Ungarn verschickt wurde, stand sie für eine Idee: kurze Botschaften von unterwegs, weshalb anfangs der Begriff "Correspondenzkarten" gebräuchlich war. Und dafür wurden die Karten auch später ja noch lange genutzt: als Urlaubsgruß aus Buxtehude, Bibione oder Brasilien, meist versehen mit präzisen Kurzberichten wie: "Das Wetter ist schön. Die Leute sind nett. Das Essen ist gut."
Heutzutage senden viele ihr Lebenszeichen lieber digital. Ein Selfie am Strand, der Teller Spaghetti Vongole im "Strahlend warm"-Fotofilter oder eine Tonaufnahme vom Meeresrauschen: Das ist moderner, geht schneller und kostet nichts. Eigentlich hat die Ansichtskarte also ausgedient. Eigentlich. Denn: Die Drehständer vor Bücher- oder Papierläden sind voll damit. Postkarten sind beliebt, werden verschenkt und gekauft. Aber auch sie mussten dafür mit der Zeit gehen. Statt Strandpromenaden und Bergpanorama - die klassischen Ansichtskartenmotive - zeigen sie Katzen, Babys, Blumenwiesen, Cocktails oder Rennautos. Sie sind Stimmungsmacher, Motivationsgeber oder Dekoelement.
Aber wer denkt sich all die Sinnsprüche, die guten Ratschläge und Einhorn-Ermutigungen aus? Zum Beispiel Ariane Gutsch aus Berlin. Für ihren Job ist die 57-Jährige gern auf Trödelmärkten unterwegs. Sie blättert durch alte Fotoalben, kauft angelaufene Schwarz-Weiß-Fotos. Dann versuche sie, die Stimmung der Aufnahme zu erfassen und daraus "ein Lebensgefühl zu formulieren", sagt sie. Eine Fotografie von fünf jungen Frauen auf einer Couch? Werde durch den Spruch "Freundinnen sind die beste Therapie" zum Statement. Ein ernst dreinschauendes Ehepaar in Sonntagskleidung? Ideales Bildmaterial für die Weisheit "Männer haben die Hosen an, die ihre Frauen aussuchen". Postkarten und Nostalgie als Erfolgsrezept für das 21. Jahrhundert? Die Ironie ist Ariane Gutsch bewusst.
Ironisch ist auch, dass die Postkarten ihrem Namen heute meist gar nicht mehr gerecht werden, denn sie landen oft gar nicht mehr im Postauto oder Briefkasten, sondern direkt am Kühlschrank oder in einem Bilderrahmen auf dem Wohnzimmerschrank. "Jeder zweite Kunde nimmt unsere Karten für sich mit nach Hause", sagt Burkhard Schepermann vom Hamburger Verlag Goldbek. Beim Verlag von Ariane Gutsch kann man das bestätigen: "Unsere Karten werden nicht für den Briefkasten gekauft", sagt die Verlagsleiterin. "Sie werden gekauft, weil sie eine Botschaft vermitteln." Zu Dekorationszwecken dürfe es dann ruhig auch mehr sein, etwa Glitter, fester Karton, Glanzdruck. Mit anderen Worten: Kitsch-Kunst aus Pappe für 1,50 Euro.
Bleibt da überhaupt noch etwas übrig von der ursprünglichen Idee der Postkarte? Doch, ja, denn eines zumindest haben fast all die dekorativen Lifestyle-Statement-Karten behalten: die Adresszeilen für den Empfänger. Für den Fall, dass der Magnetwand-Spruch doch noch auf Reisen geht.