Polizeikultur in Deutschland:"Bei der Polizei gelten Whistleblower als Kameradenschweine"

Vor dem Niedersachsenderby

Eine Maßnahme gegen aus den Fugen geratene Polizeikultur ist die Geschlechterdurchmischung auf einer Dienststelle

(Foto: dpa)

Ein Bundespolizist in Hannover soll Flüchtlinge misshandelt und einen Kollegen bedroht haben. Ist das wirklich nur ein Einzelfall? Soziologe Rafael Behr über Polizeigewalt und den "Code of Silence" auf deutschen Dienststellen.

Von Anna Fischhaber

Ein Bundespolizist der Wache am Hauptbahnhof in Hannover soll Flüchtlinge gequält haben und bei seinen Kollegen damit geprahlt haben. Zudem soll er seine Dienstwaffe auf einen Kollegen gerichtet haben. Ein "lockerer Umgang" mit den Waffenvorschriften soll auf seiner Wache normal gewesen sein. Erst ein Bericht des NDR hat die Vorfälle öffentlich gemacht. Den Hamburger Soziologen und Polizeiwissenschaftler Raphael Behr überrascht das nicht. Ein Gespräch über die Polizeikultur in Deutschland.

SZ: Herr Behr, was war da in Hannover los?

Rafael Behr: Ich vermute, der Beamte, der jetzt am Pranger steht, ist ein charismatischer Typ. Einer, der viel Einfluss auf seine Kollegen hatte, der sie einschüchtern konnte. Sicher werden es nicht alle gut gefunden haben, was er getan hat. Aber sie sahen sich offenbar gezwungen, mitzumachen. Ein rauer Umgangston, aggressives Verhalten, übersteigerte Männlichkeit scheint auf dieser Dienststelle normal zu sein. Vielen ist vielleicht erst jetzt klargeworden, wie krass das ist, was da passiert ist. Jetzt, wo ermittelt wird. Allerdings geht es nur um Strafermittlungen. Die Justiz fragt nicht nach der Strukturen, die auf dieser Wache herrschen. Die es den Beamten unmöglich gemacht haben, sich an Vorgesetzte zu wenden. Denn sicher war das nicht nur Boshaftigkeit, sondern auch Not. Vielleicht sogar Angst.

Angst wovor?

Ein Polizist muss jede Straftat sofort anzeigen, auch die eines Kollegen, sonst macht er sich der Strafvereitlung schuldig. Wenn er das nicht beim ersten Mal tut, wird er erpressbar. Wenn er zum Beispiel sieht, wie ein Kollege einen Verhörten ohrfeigt und nichts sagt, hat der andere Beamte ihn im Griff. Erst recht, wenn so etwas über Jahre läuft wie offenbar in Hannover. Zudem muss es auf dieser Dienststelle auch eine Führungsebene geben. Und solche Vorfälle lassen sich doch nicht geheim halten. Da gab es sicher Gerüchte. Aber manche Vorgesetzte wollen eben nicht genau hinsehen. Nicht umsonst hat sich jetzt jemand anonym an die Medien gewandt. Justiz und Vorgesetzte waren offenbar schlechte Ansprechpartner.

Das klingt so, als würde Sie der Fall nicht überraschen?

Er überrascht mich wirklich nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich billige ein solches Verhalten nicht, aber ich verstehe - aus wissenschaftlicher Sicht -, woher es kommt. Wenn junge Männer zusammenarbeiten und der Mythos ihrer Dienststelle Solidarität und ein "Code of Silence" ist - also die Vorstellung, nichts dürfe die Wache verlassen -, kann das zum Problem werden. Vor allem, wenn jemand seine Macht missbraucht und mit machtlosen Menschen, etwa Flüchtlingen, aufeinandertrifft. Dann kann es gefährlich werden.

Was kann man dagegen tun?

Ein Allheilmittel habe ich auch nicht, aber einige Ideen: Wichtig ist die Geschlechterdurchmischung auf einer Dienststelle. Nicht weil Frauen bessere Menschen sind, sondern weil es dann auch andere Themen gibt. Gut ist auch, wenn verschiedene Altersgruppen zusammenarbeiten - jüngere und erfahrenere Kollegen. Und wenn es eine Statusdurchmischung gibt, also auch höhere Vorgesetzte. Zudem muss ein Gespräch über Probleme möglich sein, nicht nur Heldengeschichten. Solche Siegerstories, bei denen man sich rühmt, wie man den Gegner überwältigt hat, sind ja leider typischer Polizeisprech. Auch im Fall Hannover war das ja so: Hier hat ein Beamter die Kollegen an seinem Gebaren teilhaben lassen, hat sich offenbar unangreifbar gefühlt. Da spielt natürlich auch eine gewisse Eitelkeit mit.

Rafael Behr

Rafael Behr, 57, ist Professor für Polizeiwissenschaften und hat ein Buch über Cop Culture in Deutschland geschrieben.

(Foto: oh)

Wenn ein Fall von Polizeigewalt bekannt wird, heißt es fast immer: Das war ein Einzelfall. Jetzt wieder.

Ich glaube nicht, dass es auf jeder Wache in Deutschland so zugeht wie in Hannover. Aber es gibt sehr wohl Verhältnisse, in denen solche Praktiken gang und gäbe sind. Vielleicht nicht in der Extremform, dass Flüchtlinge menschenverachtend behandelt werden. Aber dass man mit der Dienstwaffe spielt, damit spielerisch Kollegen bedroht? Das war ja keine reale Bedrohungssituation, das war eine entgleiste Form von Humor, die sicher immer wieder passiert. Das Problem ist, dass die Polizeigewerkschaften darüber nicht reden wollen. Sie bedauern den Vorfall, ja, aber sie individualisieren ihn gleichzeitig. Sie wollen den Ruf der Polizei schützen und setzen sich mit dem eigentlichen Problem nicht auseinander.

Was ist das eigentliche Problem?

Bei der Schutzpolizei gibt es immer wieder Gefährdungslagen, in denen die Situation entgleiten kann. In denen Polizisten zu Tätern oder auch zu Opfern werden. Ein Verhör bei der Kriminalpolizei, selbst ein Antiterroreinsatz einer Spezialeinheit, ist genau geplant. Bei der Schutzpolizei weiß man nie, ob eine Bagatelle vorliegt oder etwas Großes. Die Gewerkschaften stellen die Polizei als Dienstleister dar, als kundenorientiert. Nur, in solchen Fälle wird genau das konterkariert. Polizeiarbeit ist eben auch "Dirty Work", bei der man nicht unschuldig bleiben kann. Aber wenn dann nicht darüber gesprochen werden darf, wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln müssen, wird sich nichts ändern. Ich bin sehr gespannt, ob jetzt die Bundespolizei gegen die Bundespolizei ermittelt.

Haben Sie Lösungsvorschläge?

Eine Idee wäre eine straflose Selbstanzeige - ähnlich wie im Steuerrecht. In der Art: Ich hab da etwas gesehen, aber ich hab es nicht sofort einordnen können. So könnte man das Damoklesschwert, das über den Beamten baumelt, wegnehmen. Eine unabhängige Kontrolle ist eine zweite Idee. Bei uns ist die Staatsanwaltschaft Herr des Verfahrens. Aber wir müssen akzeptieren, dass Polizeigewalt nicht nur das Strafrecht betrifft, sondern immer auch ein sozialer Konflikt ist. Dann könnten wir auch einen Ombudsmann einführen, an den sich etwa betroffene Polizisten wenden könnten. Und drittens gibt es in unserer Polizeikultur kein Whistleblowerprinzip.

Was meinen Sie damit?

Dass sich Mitarbeiter anonym an Vorgesetzte wenden können und auf Missstände hinweisen - wie es etwa in einigen Krankenhäusern der Fall ist. Bei der Polizei sind Whistleblower Kameradenschweine, Verräter. Schlimmer, als eine Straftat zu verüben, ist es bei der Polizei immer noch, den Kollegen ans Messer zu liefern.

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