Süddeutsche Zeitung

Polizeigewalt:Wenn "der Polizist als Mensch entscheidet"

Mit Tritten, Fäusten und einem Schlagstock malträtieren Bremer Polizisten einen Mann. Ein Fall, wie er immer wieder in Deutschland auftritt: Gerade in Situationen, in denen die Beamten die Kontrolle behalten sollen, verlieren sie sie. Auch die Polizei sucht nach Gründen. Eine Bestandsaufnahme.

Von Nakissa Salavati

Vielleicht sind sie müde, in dieser Nacht zu Montag, angespannt von einer langen Schicht. Jedenfalls eskaliert die Situation, als mehrere Polizisten im Juni 2013 in Bremen in der Disco "Gleis 9" auf einen Mann losgehen. Ein Polizist packt ihn an der Kehle, ein anderer prügelt mit einem Schlagstock auf ihn ein und tritt den Mann. Gemeinsam ringen die Polizisten ihn zu Boden, führen ihn ab. Anschließend bringen sie ihn mit mehreren Prellungen in eine Klinik, berichtet die Bild-Zeitung.

Was offensichtlich eine Überwachungskamera aufzeichnet hat, wird später über die Presse verbreitet. Und vor dieser Szene? "Ich hatte nur gestikuliert und gebrüllt: 'Lasst meinen Bruder in Ruhe'", sagte der 28-jährige Mann der Zeitung. Die Bremer Polizei will sich zu dem Hergang nicht äußern, weil bereits ein Ermittlungsverfahren läuft.

Der Fall in der Disco reiht sich in eine lange Liste ähnlicher Übergriffe ein und er zeigt: Polizisten reagieren in angespannten Situationen immer wieder mit harter Gewalt. Etwa bei dem Einsatz der Polizei in der Kleinstadt Westerburg in Rheinland-Pfalz im Mai 2013, als zwei Polizisten in Anwesenheit zweier weiterer, untätiger Kollegen einen Mann mit Tritten und Faustschlägen traktierten.

Oder aber in München, als ein Polizeihauptmeister im Januar 2013 einer 23-jährigen Frau in Handschellen ins Gesicht schlägt - aus Notwehr, behauptete der Polizist. "Ein Gewaltexzess", sagte der Anwalt der Frau. Ähnlich ein Fall aus Rosenheim, bei dem 2011 der damalige Polizeichef persönlich einen 15-Jährigen schlug, der auf dem Rosenheimer Herbstfest Besucher angepöbelt und angegriffen hatte. Der Junge behauptete, der Polizist habe seinen Kopf sogar mehrmals gegen eine Wand geschlagen. Der Polizist hingegen sagte, er habe ihm lediglich "eine geschmiert". Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Bedrohungsgefühl, Unsicherheit, Übermüdung

Dass es bei der Polizei immer wieder zu harter Gewalt kommt, kann mehrere Auslöser haben, sagt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Uni Marburg: "Eine Situation wie in der Disco ist unübersichtlich. Auf Seiten des Pöbelnden genauso wie auf Seiten der Polizei gibt es ein Bedrohungsgefühl, Unsicherheit, vielleicht Übermüdung. Sie wissen nicht, was auf sie zukommt. Das alles fördert Aggression - entschuldigt aber natürlich nichts." Wir alle, so Wagner, würden in Ausnahmesituationen zu Reaktionen neigen, die wir uns nicht zugetraut hätten.

Allerdings soll die Polizei ja gerade in unübersichtlichen Situationen die Kontrolle behalten. Dafür darf sie auch rechtmäßige - wie sie es nennt - "Zwangsmaßnahmen" einsetzen, nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn also keine milderen Mittel ausreichen. Halten sich die Polizisten nicht daran, "machen sich die agierenden Beamten strafbar und müssen sich den Konsequenzen stellen", schreibt die Bremer Polizei in ihrer Mitteilung zum Fall. Damit die Polizisten die Kontrolle behalten, werden sie jahrelang ausgebildet, hinzu kommen Fortbildungen. So auch bei der Polizei Bremen, die nach eigenen Angaben regelmäßig Übungen anbietet, unter anderem zur Stress- und Konfliktbewältigung.

Dass Problem sei aber, dass "nach der Ausbildung im Alltag die Regeln der Praxis gelten, die eine solche Ausbildung schnell überlagern können", formuliert es der Strafrechtler Tobias Singelnstein, der an der FU Berlin zu Polizeigewalt forscht, etwas sperrig. Mit anderen Worten: Im Eifer des Gefechts siegen manchmal trotzdem die Reflexe. Wenn dann sogar die Vorgesetzten harte Gewalt anwenden, bleibe das nicht ohne Folgen.

Wie und warum es zu unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen komme, hänge immer vom Einzelfall ab, heißt es vonseiten der Gewerkschaft der Polizei. "Vor allem aus alltäglichen Routineeinsätzen kann oft eine große Gefahr für die Polizisten ausgehen. Solche Situationen können für den einzelnen Beamten kompliziert werden. So gut die Polizisten auch vorbereitet und ausgebildet sind, kann es einen Punkt geben, an dem der Polizist als Mensch entscheidet und womöglich einen Fehler macht. Niemand kann für sich ausschließen, in Krisensituationen fehlerhafte Entscheidungen zu treffen, auch kein Polizist."

Allerdings seien die Beamten in ihren Einsätzen in der Regel sehr kontrolliert und hätten eine enorme Toleranzgrenze. Grundsätzlich würden die Bürger die Polizei ja auch als besonnen wahrnehmen, so die Gewerkschaft. Tatsächlich genießt dem Global Trust Report 2013 zufolge keine andere Institution bei den Deutschen mehr Ansehen als die Polizei.

Bei Großeinsätzen wie auf Demonstrationen komme noch ein weiterer Aspekt hinzu, der erhöhte Gewaltbereitschaft erklären könnte, sagt der Sozialpsychologe Wagner: "Sowohl bei den Demonstranten, die sich vermummen, als auch bei der Polizei in Uniform passiert Folgendes: Beide sind anonym. Das schwächt ihre Selbstkontrolle. Auch Fremde können nicht mehr ausmachen, wen sie vor sich haben. Eine solche Situation steigert die Gewaltbereitschaft."

Dies lasse sich etwa an den harten Einsätzen bei Stuttgart-21-Protesten oder den Blockupy-Demonstrationen in Frankfurt beobachten. Bei solchen Einsätzen haben Polizisten normalerweise keine Kennzeichnungspflicht. Die Bürger kennen dann weder ihren Namen noch ihre Einheit. Die Beamten schützt dies oftmals vor Strafverfolgung.

Dabei könnte Fehlverhalten durchaus von Kollegen offengelegt werden, nur macht das so gut wie niemand. Im Fall der prügelnden Polizisten in Rheinland-Pfalz standen zwei Beamte untätig dabei - und erstatteten anschließend auch keine Anzeige gegen die Kollegen.

Wer petzt, hat offenbar auch bei der Polizei ein Imageproblem, selbst wenn er objektiv rechtmäßig handelt. Kommt es doch zu einer Anzeige - in Deutschland sind es etwa 2000 pro Jahr - wird je nach Bundesland intern ermittelt. In dem Fall müssten jedoch Polizisten gegen Kollegen vorgehen, bemängeln Kritiker.

Diesem Verdacht will die Bremer Polizei offensichtlich zuvorkommen. Wie sie in ihrer Pressemitteilung bekannt gab, wurde für die Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt eine von der Polizei unabhängige Gruppe eingesetzt.

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