Polizeigewalt in USA:Das Gerede vom Krieg gegen die Polizei

Protesters Continue to Demonstrate Against Police Killings

Chicagoer Polizisten bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt: 65 Prozent der US-Bürger sind hingegen überzeugt, dass es in den USA einen "Krieg gegen die Polizei" gebe.

(Foto: AFP)

Ein Video aus Chicago hat gerade wieder gezeigt, wie ein Polizist einen Schwarzen erschießt. Doch die Mehrheit der US-Bürger beklagt einen "War on Cops". Wie passt das zusammen?

Analyse von Matthias Kolb, Washington

Es dauert sechs Sekunden, bis der erste Schuss fällt. Sechs Sekunden, nachdem Jason Van Dyke sein Auto verlassen hat, schießt er auf Laquan McDonald. Der 17-jährige Schwarze stürzt, der Polizist ballert weiter. Sechzehn Mal drückt Van Dyke am 20. Oktober 2014 ab, obwohl er wissen muss, dass er gefilmt wird. Denn in Chicago gelten klare Regeln: Wird die Sirene eines Polizeiautos eingeschaltet, dann zeichnet die Kamera am Armaturenbrett auf.

Van Dyke muss sich sicher gefühlt haben, dass dieser Gewaltexzess für ihn keine Folgen hat. Er ist seit 2001 Polizist und kennt die US-Gesetze. Folglich sagt der 37-Jährige aus, dass er um sein Leben gefürchtet habe - dies schützt Polizisten nahezu immer vor Anklagen. Das Video bleibt mehr als ein Jahr geheim und wird erst publik, nachdem ein Journalist vor Gericht die Veröffentlichung erzwingt. Nun geht alles ganz schnell: Van Dyke wird wegen Mordes angeklagt und Polizeichef Garry McCarthy gefeuert.

Mehrheit der US-Bürger verteidigt Polizei gegen Kritik

Bisher ist es bei Demonstrationen in der drittgrößten Stadt der USA friedlich geblieben, aber viele Bürger glauben, dass beim Chicago Police Department systematisch vertuscht wird. Doch obwohl in den USA seit den tödlichen Schüssen auf Mike Brown in Ferguson im August 2014 permanent über Polizeigewalt debattiert wird und das Video aus Chicago eine Hinrichtung dokumentiert, sind sich Umfrage-Experten einig: Die Mehrheit der Amerikaner nimmt Polizisten vor Kritik in Schutz.

Für eine aktuelle YouGov-Umfrage wurden im November 2000 US-Bürger befragt: 65 Prozent sind überzeugt, dass es in den USA einen "Krieg gegen die Polizei" gebe - die Cops, die täglich ihr Leben riskieren, würden zu Unrecht attackiert. Diese Zahlen dürften liberale Großstadt-Amerikaner und Europäer überraschen, denn die Videos aus Chicago, Cleveland oder Staten Island belegten eindeutig das systemische Versagen vieler Polizeidienststellen. Und doch lässt sich erklären, wieso so viele Amerikaner die Polizei in Schutz nehmen.

Seit Lyndon B. Johnson 1964 der Armut den Krieg erklärte (War on Poverty), sind ihm andere Präsidenten gefolgt: Richard Nixon begann 1971 den War on Drugs und George W. Bush führte die USA nach 9/11 in den War on Terror. Heute ist die Kriegsrhetorik besonders beliebt in konservativen Talkradio-Sendungen sowie bei Fox News: Diese fürchten seit Jahren einen "Krieg gegen Weihnachten" (durch Islam und Political Correctness) und reden nun vom War on Cops.

In ihrem "Krieg gegen Polizei"-Narrativ verweisen die Moderatoren gerne auf den "Ferguson-Effekt" - demnach zögern Polizisten, Verbrecher zu jagen, weil sie nicht mit Smartphone-Kameras gefilmt und öffentlich an den Pranger gestellt werden wollen (wieso diese Theorie Quatsch ist, steht hier). Beispielhaft dafür ist dieser Ausschnitt aus der Show von Sean Hannity: Der konservative Lautsprecher lädt als Kronzeuge stets den schwarzen Sheriff David Clarke ein (ab 1:50 zu sehen).

Jonathan Blanks vom libertären Cato Institute nennt einen anderen Aspekt: Die Beurteilung der Polizei ist stark von den individuellen Erfahrungen geprägt. "Die weißen Familien in den Vororten spüren die Auswirkungen der law and order-Politik nicht", erklärt der Spezialist für Strafrecht. In den Achtziger Jahren wurde mit verschärften Gesetzen auf einen Anstieg der Kriminalitätsrate reagiert, doch die Gesetze wurden nicht gelockert, nachdem das Land sicherer wurde.

Umgang mit Polizei beeinflusst Meinung über Regierung

US-Bürger aus Kleinstädten können sich nicht vorstellen, dass Polizisten in manchen Großstadtvierteln auftreten wie "eine Besatzungsarmee" (eindrucksvoll beschrieben von der Soziologin Alice Goffman) und dabei Grundrechte ignorieren - meist ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Blanks dokumentiert auf policemisconduct.net Fälle, in denen sich Beamte fehlerhaft verhalten haben - und die Arbeit geht ihm nicht aus.

Das Auftreten der Cops hat jedoch Konsequenzen, wie Blanks betont: "Der Umgang mit der Polizei ist der direkteste Kontakt des Bürgers mit der Regierung. Die Steuererklärung schicken wir zum Beispiel per Post. Also trägt die Art, wie sich Polizisten verhalten, stark dazu bei, wie Bürger den Staat wahrnehmen."

Die YouGov-Umfrage, die der Cato-Thinktank in Auftrag gegeben hat, belegt dies: Fast drei Viertel der Weißen sehen die Polizei positiv, während es unter Schwarzen nur 47 Prozent ist. Die Videos von Polizisten, die schwarze Teenager wie Laquan McDonald in Chicago oder Tamir Rice in Cleveland erschießen, schockieren Weiße ebenso wie Schwarze - doch Letztere halten dies nicht für Ausnahmen. Das liegt nicht nur daran, dass Afroamerikaner im Alltag mehr Gewalt erleben, sondern auch daran, dass sie anders behandelt werden.

Charles Epp, Steven Maynard-Moody und Donald Haider-Markel zeigen in ihrem Buch "Pulled Over", dass Verkehrskontrollen entscheidend sind für die Wahrnehmung der Polizei. Die Kriminologen unterscheiden zwischen "Verkehrssicherheit-Stopps" und "Ermittlungsstopps". Erstere erfolgen etwa, wenn jemand zu schnell fährt. Die anderen dienen dazu, um nach Drogen zu suchen oder zu fragen, woher der Fahrer kommt. Den Wissenschaftlern ist eines aufgefallen: "Bei den 'Verkehrssicherheit-Stopps' geht es darum, wie du fährst; bei den 'Ermittlungsstopps' darum, wer du bist."

Studien belegen: Polizei diskriminiert Schwarze überproportional

So überrascht es kaum, dass weiße Amerikaner vor allem wegen Verkehrsvergehen angehalten werden, während Schwarze überwiegend von Ermittlungsstopps berichten. "Diese Aktionen betreffen fast immer unschuldige Leute", erläutert Charles Epp. "Ganz normale Bürger werden gefragt, ob sie eine Waffe besitzen - und wenn sie verneinen, heißt es: 'Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir Ihr Auto durchsuchen.' Das sorgt für Misstrauen und Feindseligkeit", sagt der Professor der University of Kansas.

Aus diversen Studien - etwa zum nun verbotenen New Yorker Stop and Frisk-Programm - ist bekannt, dass diese Strategien nicht dazu führen, dass mehr Drogen oder Waffen beschlagnahmt werden. Dem geringen Nutzen steht enormer Schaden gegenüber: Für Charles Epp steht fest, dass das Argument "Wer nichts getan hat, der hat nichts zu befürchten" für Afroamerikaner nicht gilt - ein weiterer Beleg für die unterschiedliche Wahrnehmung der Polizei zwischen Weißen und Schwarzen.

Wie sich die Polizeiarbeit verbessern lässt

Dass viele das Gerede vom War on Cops für politisch motiviert halten, wird dadurch verstärkt, dass 2015 ein relativ sicheres Jahr für US-Polizisten ist: Bisher starben 36 Beamte durch tödliche Schüsse; noch Anfang der achtziger Jahre waren es mehr als 100.

Wie schwer es ist, das Verhältnis zwischen Bürgern und der Polizei in den USA zu verbessern, zeigte eine Konferenz zur "Zukunft der Polizeiarbeit", die das Cato Institute veranstaltete. Der libertäre Thinktank, der vom Milliardär Charles Koch ebenso unterstützt wird wie von Google und Facebook (Details hier), beschäftigt sich seit langem kritisch mit Amerikas Polizisten, da diese laut Cato zu häufig die Rechte der Bürger missachten.

Simple Lösungen kann es auch deshalb nicht geben, da Polizeiarbeit in den USA auf lokaler Ebene organisiert wird und es mindestens 17 000 police departments gibt. "Die genaue Zahl kennt niemand", sagt Jonathan Blanks. So gibt es Städte wie Dallas oder Omaha, wo die Beamten alles tun, um eng mit den Bürgern zu kooperieren. Dallas stellt zudem alle Daten von Schießereien, an denen Cops beteiligt waren, in einer Online-Datenbank, wie Major Max Geron vom Dallas Police Department berichtet.

Transparenz und Dialog - das empfehlen alle Experten. Doch zur Umsetzung muss sich jede Stadt entschließen: Wenn in Chicago weniger als zwei Prozent aller Bürger-Beschwerden zu Disziplinarmaßnahmen führen, dann wird kein Vertrauen entstehen. Cynthia Lum von der George Mason University stellt zwei Punkte ins Zentrum: Einerseits müssen die Sorgen der Bevölkerung stärker berücksichtigt werden und andererseits dürften nicht länger Festnahmen der Maßstab für Erfolg sein. "Polizeibezirke, die auf Prävention setzen und besonders viele Straftaten verhindern, sollen belohnt werden", sagt Lum.

Ob all das Werben für umfassende Polizei-Reformen wirklich zu einer landesweiten Welle wird, wie die Washington Post gerade prognostiziert hat, bleibt abzuwarten. Aber fraglos häufen sich Medienberichte von Polizeichefs, die etwa nach Schottland reisen, um zu sehen, wie die Polizisten dort arbeiten - ohne im Alltag eine Waffe zu tragen. Gewiss: Damit US-Polizisten weniger martialisch auftreten können, müssten die strengen Gesetze aus den Achtzigern geändert werden - von den Unmengen an Waffen, die im Umlauf sind, ganz zu schweigen.

Dank der "Black Lives Matter"-Aktivisten (sie sind verhasst bei jenen, die an einen War on Cops glauben) wird der politische Druck nicht abnehmen. Alle demokratischen Präsidentschaftskandidaten fordern neben strengeren Waffengesetzen auch Polizei-Reformen.

Rufe nach dem Rücktritt des Bürgermeisters von Chicago

Und auch Chicago wird nicht zur Ruhe kommen, denn die Wut auf die lokale Elite ist groß. Die Stadt wird seit Jahrzehnten von Demokraten regiert, die eng mit der Polizeigewerkschaft kooperieren - und alle wissen, dass Bürgermeister Rahm Emanuel im April 2015 knapp wiedergewählt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Video des brutalen Polizisten Jason Van Dyke noch nicht publik.

Dass die Familie von Laquan McDonald kurz nach der Stichwahl Mitte April fünf Millionen Dollar an Entschädigung erhielt, um auf eine Klage zu verzichten, passt ins Bild und stärkt den Vertuschungsverdacht. Seit Ende November gehen Aktivisten in Chicago jeden Abend auf die Straße und fordern den Rücktritt von Bürgermeister Emanuel, einem engen Vertrauten von Präsident Barack Obama und Hillary Clinton.

An der Diskussion um Emanuels möglichen Rücktritt zeigt sich auch die Schlagkraft der Protestbewegung. Der schwarze Bürgerrechtler und TV-Moderator Al Sharpton bringt es auf den Punkt: "Wenn er abtreten muss, dann wäre das die Krönung für die Arbeit der Aktivisten."

Linktipps:

  • Wieso viele Polizisten wütend sind und sich im Stich gelassen fühlen, lesen Sie in dieser SZ.de-Reportage.
  • Wie die Polizei Afroamerikaner in Ferguson und anderen Städten in Missouri schikanierte, lesen Sie in diesem Text.
  • Die Vorträge der Cato-Konferenz zu "Polizeiarbeit in den USA" wurden per Video dokumentiert und sind hier zu finden.
  • Der schwarze Comedian Larry Gilmore macht sich in diesem Clip sehr treffend lustig über den angeblichen "Krieg gegen die Polizei":
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: