Es dauert sechs Sekunden, bis der erste Schuss fällt. Sechs Sekunden, nachdem Jason Van Dyke sein Auto verlassen hat, schießt er auf Laquan McDonald. Der 17-jährige Schwarze stürzt, der Polizist ballert weiter. Sechzehn Mal drückt Van Dyke am 20. Oktober 2014 ab, obwohl er wissen muss, dass er gefilmt wird. Denn in Chicago gelten klare Regeln: Wird die Sirene eines Polizeiautos eingeschaltet, dann zeichnet die Kamera am Armaturenbrett auf.
Van Dyke muss sich sicher gefühlt haben, dass dieser Gewaltexzess für ihn keine Folgen hat. Er ist seit 2001 Polizist und kennt die US-Gesetze. Folglich sagt der 37-Jährige aus, dass er um sein Leben gefürchtet habe - dies schützt Polizisten nahezu immer vor Anklagen. Das Video bleibt mehr als ein Jahr geheim und wird erst publik, nachdem ein Journalist vor Gericht die Veröffentlichung erzwingt. Nun geht alles ganz schnell: Van Dyke wird wegen Mordes angeklagt und Polizeichef Garry McCarthy gefeuert.
Mehrheit der US-Bürger verteidigt Polizei gegen Kritik
Bisher ist es bei Demonstrationen in der drittgrößten Stadt der USA friedlich geblieben, aber viele Bürger glauben, dass beim Chicago Police Department systematisch vertuscht wird. Doch obwohl in den USA seit den tödlichen Schüssen auf Mike Brown in Ferguson im August 2014 permanent über Polizeigewalt debattiert wird und das Video aus Chicago eine Hinrichtung dokumentiert, sind sich Umfrage-Experten einig: Die Mehrheit der Amerikaner nimmt Polizisten vor Kritik in Schutz.
Für eine aktuelle YouGov-Umfrage wurden im November 2000 US-Bürger befragt: 65 Prozent sind überzeugt, dass es in den USA einen "Krieg gegen die Polizei" gebe - die Cops, die täglich ihr Leben riskieren, würden zu Unrecht attackiert. Diese Zahlen dürften liberale Großstadt-Amerikaner und Europäer überraschen, denn die Videos aus Chicago, Cleveland oder Staten Island belegten eindeutig das systemische Versagen vieler Polizeidienststellen. Und doch lässt sich erklären, wieso so viele Amerikaner die Polizei in Schutz nehmen.
Seit Lyndon B. Johnson 1964 der Armut den Krieg erklärte (War on Poverty), sind ihm andere Präsidenten gefolgt: Richard Nixon begann 1971 den War on Drugs und George W. Bush führte die USA nach 9/11 in den War on Terror. Heute ist die Kriegsrhetorik besonders beliebt in konservativen Talkradio-Sendungen sowie bei Fox News: Diese fürchten seit Jahren einen "Krieg gegen Weihnachten" (durch Islam und Political Correctness) und reden nun vom War on Cops.
In ihrem "Krieg gegen Polizei"-Narrativ verweisen die Moderatoren gerne auf den "Ferguson-Effekt" - demnach zögern Polizisten, Verbrecher zu jagen, weil sie nicht mit Smartphone-Kameras gefilmt und öffentlich an den Pranger gestellt werden wollen (wieso diese Theorie Quatsch ist, steht hier). Beispielhaft dafür ist dieser Ausschnitt aus der Show von Sean Hannity: Der konservative Lautsprecher lädt als Kronzeuge stets den schwarzen Sheriff David Clarke ein (ab 1:50 zu sehen).
Jonathan Blanks vom libertären Cato Institute nennt einen anderen Aspekt: Die Beurteilung der Polizei ist stark von den individuellen Erfahrungen geprägt. "Die weißen Familien in den Vororten spüren die Auswirkungen der law and order-Politik nicht", erklärt der Spezialist für Strafrecht. In den Achtziger Jahren wurde mit verschärften Gesetzen auf einen Anstieg der Kriminalitätsrate reagiert, doch die Gesetze wurden nicht gelockert, nachdem das Land sicherer wurde.
Umgang mit Polizei beeinflusst Meinung über Regierung
US-Bürger aus Kleinstädten können sich nicht vorstellen, dass Polizisten in manchen Großstadtvierteln auftreten wie "eine Besatzungsarmee" (eindrucksvoll beschrieben von der Soziologin Alice Goffman) und dabei Grundrechte ignorieren - meist ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Blanks dokumentiert auf policemisconduct.net Fälle, in denen sich Beamte fehlerhaft verhalten haben - und die Arbeit geht ihm nicht aus.
Das Auftreten der Cops hat jedoch Konsequenzen, wie Blanks betont: "Der Umgang mit der Polizei ist der direkteste Kontakt des Bürgers mit der Regierung. Die Steuererklärung schicken wir zum Beispiel per Post. Also trägt die Art, wie sich Polizisten verhalten, stark dazu bei, wie Bürger den Staat wahrnehmen."
Die YouGov-Umfrage, die der Cato-Thinktank in Auftrag gegeben hat, belegt dies: Fast drei Viertel der Weißen sehen die Polizei positiv, während es unter Schwarzen nur 47 Prozent ist. Die Videos von Polizisten, die schwarze Teenager wie Laquan McDonald in Chicago oder Tamir Rice in Cleveland erschießen, schockieren Weiße ebenso wie Schwarze - doch Letztere halten dies nicht für Ausnahmen. Das liegt nicht nur daran, dass Afroamerikaner im Alltag mehr Gewalt erleben, sondern auch daran, dass sie anders behandelt werden.
Charles Epp, Steven Maynard-Moody und Donald Haider-Markel zeigen in ihrem Buch "Pulled Over", dass Verkehrskontrollen entscheidend sind für die Wahrnehmung der Polizei. Die Kriminologen unterscheiden zwischen "Verkehrssicherheit-Stopps" und "Ermittlungsstopps". Erstere erfolgen etwa, wenn jemand zu schnell fährt. Die anderen dienen dazu, um nach Drogen zu suchen oder zu fragen, woher der Fahrer kommt. Den Wissenschaftlern ist eines aufgefallen: "Bei den 'Verkehrssicherheit-Stopps' geht es darum, wie du fährst; bei den 'Ermittlungsstopps' darum, wer du bist."