Polizeigewalt in den USA:Sonst brennt bald nicht mehr nur Baltimore

Demonstrators Gather Outside Baltimore Police Station to Protest

Ein Polizist in Baltimore während der Proteste gegen den Tod des schwarzen US-Bürgers Freddie Gray. Im Hintergrund brennt ein Geschäft.

(Foto: dpa)

In Amerika lässt der Staat die Armen im Stich. Das gebiert neue Gewalt, auf die die Polizei immer brutaler antwortet. Der Tod der schwarzen US-Bürger Garner, Scott und Gray legt nahe, dass der Exzess im System angelegt ist.

Kommentar von Nicolas Richter

Baltimore stand lange für Überlebenskunst. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, als die Frachtschiffe wegblieben und der Hafen vergammelte, baute ihn die Stadt zu einem Vergnügungspark um: Heute fahren Touristen Tretboot, staunen über die Delfine im Aquarium oder essen Krabbenfleisch. Baltimore hat der Welt vorgeführt, wie sich eine Industriestadt neu erfindet, wenn sie ihre Industrie verliert. Besonders der Hafen gilt als Inbegriff dessen, was man in Amerika urban renaissance nennt, die Wiedergeburt der Städte.

Jetzt, da neben friedlichen Demonstranten auch Plünderer und Brandstifter durch die Straßen ziehen, wäre die Lage mit "urbaner Selbstzerstörung" besser beschrieben. Anlass ist - wieder einmal - das Schicksal eines Schwarzen, der eine Begegnung mit der Polizei nicht überlebte. Die Staatsgewalt hat Freddie Gray tödlich verletzt, wie zuletzt Michael Brown in Ferguson, Eric Garner in Staten Island, Walter Scott in North Charleston.

Amerika lässt die Armen im Stich - das zerstört eine Stadt

Der Fall Freddie Grays erzählt vom Zustand amerikanischer Städte. Baltimore ist nicht Ferguson, es liegt nicht in der Provinz, sondern zwischen New York und Washington. Selbst hier an der Ostküste gedeiht seit Jahrzehnten das Elend einer Unterschicht, die sich nicht befreien kann aus Armut, Sucht und Kriminalität. Die Randale ist nun immerhin ein Anlass, sich an Amerikas vergessene Stadtviertel zu erinnern und an die meist stille Hoffnungslosigkeit ihrer Bewohner.

Freddie Gray ist nur wenige Meilen entfernt vom feinen Hafen aufgewachsen, in Sozialwohnungen im Westen der Stadt. Seine Mutter war süchtig nach Heroin, die Straßen beherrschten Gangs. Er wurde mehrmals verurteilt wegen Drogendelikten und war nie fest angestellt. Für viele junge schwarze Männer beginnt das Leben so. Das Trostlose liegt darin, dass eine Generation nach der nächsten diesem Kreislauf nicht entkommen kann.

Dieser Teufelskreis hat in Städten wie Baltimore begonnen, mit dem Verschwinden der Arbeitsplätze in Fertigung und Industrie. Es folgte der Krieg gegen Drogen und die massenhafte Inhaftierung junger, schwarzer Männer, die oft nicht einmal eine Gewalttat begangen hatten. Im Alltag sollen heute 1,5 Millionen schwarze Männer im Alter zwischen 24 und 54 Jahren fehlen, sie sind jung gestorben oder sitzen im Gefängnis. Etliche Kinder also wachsen ohne Vater auf, geraten an Gangs, verkaufen Drogen und landen selbst in Haft. Wer einmal vorbestraft ist, findet oft keine Arbeit mehr, und leider beeinträchtigt es die Erfolgschancen noch immer, schwarz zu sein. In vielen Armenvierteln ist Arbeitslosigkeit die Regel, weil es keine Arbeit gibt oder weil die Arbeitslosen die Suche aufgegeben haben.

Hauptdarstellerin der Fernsehserie "The Wire"

All dies ist kein Geheimnis. Baltimore war lange die Hauptdarstellerin der weltbekannten Fernsehserie "The Wire", die das kaputte Sozialgefüge dokumentierte. Solange aber Ruhe herrscht, vergessen die einflussreicheren Teile der Gesellschaft das sich selbst perpetuierende Elend. Nach den Unruhen der Sechzigerjahre ist die weiße Mittelschicht ins Umland gezogen und streift Amerikas Armenviertel allenfalls noch auf der Stadtautobahn. Höchstens für ideologische Debatten ist die Thematik noch interessant: Gerne behaupten die Rechten, dass die Linken mit ihrer Sozialhilfe den Zerfall erst verursacht hätten, weil sie schwarze Männer aus der Verantwortung entließen.

Während es stimmen mag, dass zu viele junge schwarze Väter ihre Familie sitzen lassen, hat sich der Staat selbst aus der Verantwortung gestohlen, indem er mancherorts nicht mehr bietet als schäbige Schulen und die Schläge unbeherrschter Polizisten. In Baltimore fiel die Kapitulation zeitweise besonders drastisch aus: Zuletzt hat der Staat Maryland etwa das Untersuchungsgefängnis Baltimores gleich ganz der Herrschaft der Gangs überlassen. Selbst Justizbeamte liefen zu den eigentlich Mächtigen über - zum organisierten Verbrechen.

Der erste Schritt zur Besserung liegt darin, dass sich Amerikas Polizisten zügeln. Ihr oft martialisches und herablassendes Gehabe verstört nicht nur schwarze Amerikaner; sie aber trifft es besonders hart. Arme Schwarze stehen praktisch unter Generalverdacht. Die Gerichte in Baltimore haben den Opfern von Polizeigewalt binnen vier Jahren fast sechs Millionen Dollar zugesprochen, oft wegen Knochenbrüchen. Obwohl das Land seit Monaten über Polizeigewalt redet, töten Polizisten noch immer, obwohl weder ihr Leib noch ihr Leben gefährdet sind - in den Fällen Garner, Scott und Gray ist dies offensichtlich. Es legt nahe, dass der Exzess im System angelegt ist. Alle Staaten und die US-Regierung müssen dies dringend in den Griff bekommen. Sonst brennt bald nicht mehr nur Baltimore.

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