Köln und Hamburg, das sind die beiden Städte, von denen bislang hauptsächlich die Rede war, wenn es um Übergriffe in der Silvesternacht ging. Jetzt wird klar: Das Phänomen der sexuellen Gewalt, teilweise gepaart mit Trickdiebstahl war an Silvester weiter verbreitet als bisher bekannt. In zwölf Bundesländern kam es in der Nacht auf den 1. Januar zu Sexual- und Diebstahlsdelikten, in einigen Ländern waren es allerdings nur Einzelfälle. Das geht nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung aus einem vertraulichen Lagebericht des Bundeskriminalamts hervor. Die Innenministerkonferenz hatte die Untersuchung nach den massiven Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof in Auftrag gegeben. Darin heißt es auch: Erkenntnisse zu Verabredungen unter den Tätern lägen in den meisten Fällen nicht vor, in keinem Fall gäbe es Erkenntnis zu Organisierter Kriminalität.
Erhoben wurden aus Gruppen heraus begangene Sexualstraftaten im öffentlichen Raum, oder Eigentumsdelikte bei denen die Opfer beraubt oder bestohlen wurden und die dem sogenannten "Antanzdiebstahl" ähneln. Bayern meldete 27 Übergriffe mit Schwerpunkten in Nürnberg und München, Berlin sechs und Baden-Württemberg 25. Bremen meldet elf "Antanzdiebstähle", allerdings ohne sexuelle Übergriffe. In Hessen wurden 31 Fälle von sexueller Nötigung, sexueller Beleidigung, Diebstahl und versuchtem Diebstahl festgestellt, Tatverdächtige konnten dort jedoch nicht ermittelt werden.
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Die meisten Fälle gab es in Nordrhein-Westfalen und Hamburg, aus diesen Bundesländern gibt es auch die weitreichendsten Erkenntnisse. In Hamburg wurden dem Bericht zufolge 195 Fälle angezeigt, der Großteil davon reine Sexualdelikte. Acht Tatverdächtige konnten ermittelt werden. Mit den Schwerpunkten in Köln, Düsseldorf und Bielefeld meldeten die nordrhein-westfälischen Ermittler insgesamt 1076 Straftaten. Dabei handelt es sich um 692 Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte sowie 384 Sexualdelikte. Darunter wurden 116 Taten in "Kombination mit Eigentumsdelikten begangen". Unter den ermittelten Tatverdächtigen befinden sich 12 Personen mit deutscher und 60 Personen anderer Nationalität, darunter Algerier, Iraker, Afghanen und Syrer. Auch die Bundespolizei wurde um Erkenntnisse gebeten. Sie ist für acht Hauptbahnhöfe zuständig und meldet 43 Anzeigen. Die mutmaßlichen Täter sind weitgehend unbekannt, unter den ermittelten Tatverdächtigen sind Männer marokkanischer, algerischer und tunesischer Nationalität. Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland ermittelten das Phänomen in teilweise sehr abgeschwächter Form, sie haben teilweise nur ein oder zwei Fälle gemeldet. Keine derartigen Delikte meldeten hingegen Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.
Polizei geht nicht von Absprachen aus
Das Fazit der Ermittler: Bei dem sogenannten "Antanzdiebstahl" handelt es sich um eine neue Form der Kriminalität, die jedoch nach bisherigen Erkenntnissen bundesweit nicht verabredet oder abgesprochen war. Stichtag der Auswertung war der 13. Januar. Das Bundeskriminalamt betont, dass es sich um eine Momentaufnahme handelt. Da die Ermittlungen noch laufen, sei die Lage "weiterhin dynamisch". In allen Bundesländern sind die Opfer bis auf wenige Ausnahmen weiblich und die Tatverdächtige junge Männer im Alter von etwa 17 bis 30 Jahren. Da in der angeforderten "Sachverhaltsdarstellung" explizit nach Erkenntnissen zu den Tätern oder Tätergruppen gefragt wurde, bemühten sich die zuliefernden Länder offenbar um eine Eingrenzung der Herkunft von Tatverdächtigen. Dabei wird deutlich, wie schwierig es für Ermittlungsbehörden ist, die Anfang der Woche bekannt gewordene Forderung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière in die Praxis umzusetzen, einen "Migrations- oder Flüchtlingshintergrund" bei Straftaten zu nennen.
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So berichtet Baden-Württemberg sowohl über einen US-amerikanischen und einen algerischen Tatverdächtigen, bei einer anderen Gruppe wiederum über "Tatverdächtige mit arabischem Erscheinungsbild". Hamburg nennt Kleingruppen von "Männern mit südländischer Erscheinung", Hessen gar das Konstrukt: Männer mit "nordafrikanischem/arabischem/südeuropäischem/osteuropäischem Aussehen". Nordrhein-Westfalen spricht von einem "augenscheinlichem Migrationshintergrund" und einem "ausländischem Erscheinungsbild", ohne zu erläutern, worin dieser Augenschein besteht oder wodurch vom Aussehen der Person auf seine Nationalität zu schließen war. Eine einheitliche Definition liegt dem Lagebild offenbar nicht zugrunde.
BKA sammelt auch Informationen zu Übergriffen im Ausland
Das Bundeskriminalamt hat das Lagebild um einen internationalen Ausblick erweitert. Unter anderem in Frankreich, Griechenland, Schweden und der Türkei wurden ähnliche, jedenfalls aber nicht so massive Übergriffe vermeldet, jedoch stützt sich die Auswertung vornehmlich auf öffentlich zugängliche Medienquellen. So wurde zum Beispiel in Kroatien zwar über ähnliche Vorkommnisse berichtet, der Generalpolizeidirektion liegen jedoch keine Erkenntnisse vor. Auch in Ägypten und Algerien sind laut den BKA-Verbindungsbeamten in den jeweiligen deutschen Botschaften sexuelle Belästigungen weit verbreitet, in Marokko und Tunesien jedoch weitgehend unbekannt.
Bei einem Treffen mit Europol Ende Januar soll ein Austausch auf europäischer Ebene angeregt werden. Das nordrhein-westfälische Innenministerium hatte am Donnerstag im Landtag einen ausführlichen Sachstand zum Ablauf der Silvesternacht vorgelegt.