Süddeutsche Zeitung

Physiker über den "Titanic"-Untergang:"Sie hätte nicht sinken müssen"

Wie lang war der Bremsweg der "Titanic"? Warum sahen die Matrosen im Ausguck den Eisberg erst so spät? Und warum liegt die "Costa Concordia" auf der falschen Seite? Ein Gespräch mit dem Physiker Metin Tolan über die Berechenbarkeit von Schiffsunglücken.

Lena Jakat

Metin Tolan ist Physiker. In seinen Vorlesungen an der TU Dortmund versucht er, die Studenten für theoretische Inhalte zu begeistern, indem er sie auf Fußball anwendet, auf James Bond - oder auf den Untergang der Titanic. Er ist Autor des Buches "Mit Physik in den Untergang". Wie lang war der Bremsweg des einst weltgrößten Schiffes? Warum sahen die Matrosen im Ausguck den Eisberg erst so spät? Und warum liegt die Costa Concordia auf der falschen Seite? Ein Gespräch über die Berechenbarkeit von Schiffsunglücken.

Süddeutsche.de: Herr Tolan, Sie sind an der TU Dortmund Professor für Experimentelle Physik. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit der Titanic zu beschäftigen?

Metin Tolan: Ich war sehr begeistert von dem Cameron-Film Titanic. Es gibt darin eine Szene, in der Schiffskonstrukteur Thomas Andrews gefragt wird, wie viel Zeit noch bleibt, bis das Schiff sinkt. "Eine Stunde, vielleicht zwei", antwortet er. Ich habe mich gefragt, woher er das weiß, habe mich hingesetzt, nachgerechnet - und kam zu demselben Ergebnis. Vieles an der Katastrophe lässt sich mithilfe der Physik erklären.

Süddeutsche.de: Haben Sie auch herausgefunden, ob die Titanic durch die Kollision mit dem Eisberg zwangsläufig hätte sinken müssen?

Tolan: Das hätte sie nicht, zumindest in der Theorie. Wenn man diesen Untergang aufrollt, muss man sich immer die Frage stellen, warum die Konstrukteure damals das Schiff für unsinkbar hielten. Dafür gibt es berechtigte Gründe. Die Titanic war technisch auf dem allerneuesten Stand, verfügte über 15 wasserdichte Schotten, die im Rumpf 16 Abteilungen voneinander trennten. Selbst wenn vier dieser Abteilungen vollgelaufen wären, wäre das Schiff noch über Wasser geblieben. Und einen solchen schwerwiegenden Unfall, ein so großes Loch, konnte man sich schlicht nicht vorstellen.

Süddeutsche.de: Wäre es also besser gewesen, der erste Offizier, William Murdoch, wäre direkt auf den Eisberg gefahren, anstatt zu versuchen, noch auszuweichen?

Tolan: Dafür waren diese Schiffe tatsächlich ausgelegt. Rechnet man aus, wie stark sich Stahl zusammendrücken lässt, kommt man zu dem Ergebnis: Bei einem Frontalzusammenstoß wären maximal die ersten beiden Abteilungen im Bug eingedrückt worden. Die Titanic wäre nicht gesunken, man hätte mehr Zeit gehabt, das Schiff zu evakuieren. Aber so logisch das aus heutiger Sicht klingt, so undurchführbar war das damals.

Süddeutsche.de: Der Befehl lautete: "Hart Backbord!". Murdoch versuchte, an dem Eisberg vorbei zu fahren.

Tolan: Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf der Brücke und müssen das Kommando geben! Fahren Sie voll auf den Eisberg zu, sterben im Bug etwa 200 Leute, vor allem Personal. Da sagen Sie doch: "Leute, lasst uns alles versuchen, um da irgendwie dran vorbeizukommen." Und es hätte ja auch beinahe funktioniert. Es war sehr knapp. Heute, 100 Jahre später, verfügt man über ausgefeilte Möglichkeiten, ein solches Manöver am Computer zu simulieren. Doch auch damit ließe sich nicht beweisen, dass es die Titanic nicht vielleicht doch an dem Eisberg vorbeigeschafft hätte. Das Problem war: Man hat den Eisberg schlichtweg viel zu spät gesehen, als er nur noch 300 Meter entfernt war.

Süddeutsche.de: Niemand an Bord wusste, wo die Feldstecher lagen, auch die Späher im Krähennest hatten keine Ferngläser. War das der entscheidende Punkt?

Tolan: Klar, Ferngläser wären gut gewesen, aber auch ohne hätte man einen so großen Eisberg früher sehen müssen. 500 Meter Entfernung hätten ja schon gereicht, um daran vorbeizukommen. Es ist schon verwunderlich, dass sie den Eisberg so spät gesehen haben.

Süddeutsche.de: Manche Wissenschaftler sagen, ein seltenes Wetterphänomen könnte schuld daran sein, eine Superrefraktion. Sie funktioniert ungefähr wie eine umgekehrte Fata Morgana und lässt den Horizont verschwimmen.

Tolan: Das denke ich nicht. Als Physiker gehe ich stets von der wahrscheinlichsten Theorie aus. Und die ist eine andere: Es war eine mondlose Nacht, es gab nur relativ wenig Licht. Die See war ruhig, die Matrosen konnten also auch keine Wellen sehen, die an dem Eisberg gebrochen wären. Und ich vermute, sie hatten doppeltes Pech.

Süddeutsche.de: Inwiefern?

Tolan: Unter bestimmten Bedingungen bilden sich Eisberge, die nicht so schön weiß sind, wie wir sie kennen, sondern bläulich. Eisberge entstehen dadurch, dass der Schnee, der in Grönland fällt, durch neuen Schnee zusammengedrückt wird. Dann entsteht Eis, es kommt ins Rutschen und gelangt ins Wasser. Eisberge sind deshalb in der Regel weiß, weil die Luftblasen darin alles Licht reflektieren. Unter bestimmten Witterungsbedingungen werden besonders wenige Luftbläschen eingeschlossen. Dann dringt das Licht ein und nur die energiereichsten Strahlen kommen zurück: die blauen. Wenn es in der Nacht des 14. April 1912 wirklich ein solcher bläulicher Eisberg war, dann hätten die Matrosen den schlecht sehen können.

Süddeutsche.de: So hat der Eisberg den Rumpf der Titanic einfach aufgeschlitzt?

Tolan: Das glauben viele. Aber versuchen Sie mal, mit einem Eiszapfen ihr Auto aufzuschlitzen. Das gibt höchstens ein paar Kratzer im Lack. Stahl ist deutlich härter als Eis. Was wirklich passiert ist: Die Titanic ist gegen den Eisberg gedrückt worden und die Nieten, die die Stahlplatten verbanden, sind aufgegangen. So entstanden Spalten, die allerdings nur wenige Zentimeter breit waren.

Süddeutsche.de: Und trotzdem waren die Lecks so verhängnisvoll?

Tolan: Insgesamt war das Leck nur gut einen Quadratmeter groß, etwa so groß wie eine Seite der Süddeutschen Zeitung. Aber auf 90 Metern der Schiffslänge entstanden durch die Kollision mehrere schmale Spalten. Durch sie drang Wasser ein und überflutete sechs der 16 wasserdichten Abteilungen im Schiffsrumpf. Man weiß, dass nach zehn Minuten das Wasser im Bug schon gut vier Meter hoch stand. Anhand der Wassermenge lässt sich nicht nur ausrechnen, wie groß das Leck war, sondern auch, wie viel Zeit der Besatzung noch blieb. Man kommt so auf eine, höchstens zwei Stunden.

Süddeutsche.de: Zwei Stunden, maximal. War das viel?

Tolan: Für die Besatzung war es sehr wichtig, diese Zeitspanne zu kennen. Da leitet man ganz andere Maßnahmen ein, als wenn man weiß, man hat nur 20 Minuten. Dann heißt es vielleicht nur: Rette sich wer kann! Und der Mannschaft der Titanic ist es heldenhaft gelungen, eine Schlagseite zu verhindern.

Süddeutsche.de: Wie denn?

Tolan: Nach der Kollision sind 20.000 Tonnen Wasser eingedrungen, pro Stunde. Die Pumpen an Bord konnten höchstens 400 Tonnen stündlich aus dem Rumpf abpumpen. Das war völlig hoffnungslos. Aber mit den Pumpen konnte man das Wasser gleichmäßig verteilen, so dass keine Schlagseite entstand. Dann wären sofort die Maschinenräume vollgelaufen, man hätte keinen Strom mehr gehabt um die Boote hinabzuwinden, kein Licht, um zu sehen was man tut. Das Schiff wäre viel schneller gesunken. So ist nur der Bug vollgelaufen. Das Schiff hat sich ganz langsam geneigt und es war noch genug Zeit, die Leute zu evakuieren. In diesem Sinne ist die Titanic optimal gesunken. Anders als zum Beispiel die Costa Concordia, ...

Süddeutsche.de: ... die noch immer auf der Seite vor der Insel Giglio liegt.

Tolan: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass die Concordia auf der falschen Seite liegt?

Süddeutsche.de: Nein, warum?

Tolan: Das Schiff liegt so, dass man das Leck sehen kann. Aber eigentlich müsste die Concordia auf der Seite liegen, auf der das Wasser eingedrungen ist. Der Fehler war wohl, dass die Besatzung die Türen offenstehen ließ.

Süddeutsche.de: Welche Türen?

Tolan: Das Prinzip ist immer noch Dasselbe: Auch die Concordia ist in mehrere Abteilungen unterteilt. Drei davon wären vollgelaufen, das Schiff wäre nicht gesunken. Aber die Stahlwände zwischen den Abteilungen sind auf einem Kreuzfahrtschiff lästig, man hätte statt vieler kleiner Räume lieber einen großen Tanzsaal. Deswegen baut man Türen ein. Eigentlich ist es streng verboten, sie zu öffnen. Aber genau das ist offensichtlich passiert. Als das Wasser in die Concordia eingedrungen ist, hat es sich durch die offenen Türen im ganzen Schiffsrumpf verteilt, völlig ungleichmäßig. Deswegen ist das Schiff auch hin und her geschwankt, wie die Passagiere berichtet haben, die Besatzung hatte die Situation nicht mehr unter Kontrolle.

Süddeutsche.de: Also war auch hier der Faktor Mensch entscheidend?

Tolan: In letzter Konsequenz lassen sich viele Unglücke auf irgendeine Entscheidung zurückführen, die ein Mensch getroffen hat. Hätten sich alle an die Sicherheitsregeln gehalten, hätte die Concordia nicht sinken müssen. Aber auch heute denkt man ja, dass so ein Schiff unsinkbar ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1331467
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/holz/woja
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.