Süddeutsche Zeitung

Philosophin über Dutroux-Komplizin:"Was ist das Böse?"

Verdient jemand wie Michelle Martin wirklich eine zweite Chance? Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz über das Böse im Menschen, göttliche Vergebung und den Umzug der Komplizin des Kindermörders Dutroux in ein katholisches Kloster.

Marc Felix Serrao

Es gibt Verbrechen, die sprengen die Vorstellungskraft. Wie die des belgischen Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux und seiner Ex-Frau Michelle Martin. An diesem Dienstag hat das Berufungsgericht in Brüssel entschieden, dass Martin das Gefängnis nach 16 Jahren vorzeitig entlassen darf. Die 52-Jährige will künftig im Kloster leben. Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz versteht die Empörung der Opferfamilien - das Urteil begrüßt sie trotzdem.

SZ: Michelle Martin kommt frei. Es gibt viele Menschen, die das wütend macht. Können Sie das nachvollziehen, Frau Professor Gerl-Falkovitz?

Gerl-Falkovitz: Sicher, die Empörung ist verständlich. Gerechtigkeit ist ja auch nach 16 Jahren nicht hergestellt. Sie kann Dinge nur aufwägen. Aber wie wägt man ein solches Verbrechen auf? Solch eine Form des Sadismus? Dazu braucht man etwas anderes: Vergebung. Und das ist ein Begriff, den das Recht nicht kennt.

SZ: Das Recht kennt keine Vergebung?

Gerl-Falkovitz: Das können Sie bei Derrida nachlesen, in der schönen kleinen Arbeit "Der mystische Grund des Rechts". Staat und Justiz verfügen über keine absoluten Kategorien. Sie können nur versuchen, Gerechtigkeit herzustellen, also ausgleichen. Es gibt lediglich eine einzige Stelle, wo das aufbricht: in der Amnestie - wie jetzt im Falle von Frau Martin. Mit der Amnestie, also dem Gnadenerlass, verweisen Staat und Justiz auf etwas, das nicht in ihrer Macht steht, etwas absolutes. Sie erweisen Gnade, dabei kennen sie den Begriff gar nicht. Absolution gibt es nur im Absoluten.

SZ: Apropos. Der katholische Orden der Klarissen hat sich bereit erklärt, Michelle Martin in seinem Kloster im belgischen Malonne aufzunehmen. Was sind das für Frauen?

Gerl-Falkovitz: Der Orden ist entstanden mit Blick auf das Leben von Klara von Assisi, der Freundin von Franz von Assisi. Damit ist das Motto vorgegeben. Die Frauen leben völlig asketisch. Sie besitzen nichts. Sie sind für den Lebensunterhalt angewiesen auf andere Menschen. Und sie sind verschwiegen.

SZ: Eine Erklärung des Ordens zum Fall Martin gab es aber schon. Sie sei "ein Mensch, der zum Guten wie zum Bösen fähig ist - so wie wir alle. Wir glauben daher, dass wir nicht leichtfertig handeln, wenn wir das Beste von ihr erwarten".

Gerl-Falkovitz: Ein wunderbarer Satz. Er entspricht ganz dem Geist der Klarissen. "Pro-Existenz" heißt da eine wichtige Devise: Ich gebe meine Existenz für eine anderes Leben, auch, wenn es verpfuscht und grauenhaft ist und selbst nicht mehr auf die Beine kommt.

SZ: Wie das von Michelle Martin?

Gerl-Falkovitz: Wenn überhaupt, dann kann ein Mensch wie sie vielleicht an einem Ort wie diesem Kloster zur mühsamen Umkehr kommen.

SZ: Sie haben viel über das christliche Verständnis von Vergebung nachgedacht. Hat der Begriff eigentlich Grenzen?

Gerl-Falkovitz: Grundsätzlich? Nein - von der Botschaft des Alten und Neuen Testamentes her. Allerdings gibt eine Grenze in einem Wort Jesu. Sie ist sehr geheimnisvoll, weil man nicht genau weiß, wo sie verläuft: die Sünde wider den Heiligen Geist.

SZ: Was bedeutet das, für die Agnostiker unter unseren Lesern?

Gerl-Falkovitz: Ich will versuchen, eine These zu formulieren: Das Ende der Vergebung ist dort erreicht, wo sich ein Täter vor der Barmherzigkeit verschließt. Die Barmherzigkeit Gottes ist uferlos, ja - laut den Zeugnissen aller monotheistischen Religionen. Aber sie endet da, wo ich mich weigere, wo ich so verbohrt bin in mein Unglück, in meine Schweinerei, dass mich niemand mehr erreicht. Ein furchtbarer Zustand. Die Tore der Hölle werden von innen zugehalten.

SZ: Sprechen wir über Michelle Martins Taten. Sprechen wir über das Böse.

Gerl-Falkovitz: Ja, was ist das Böse? Wir sollten erst einmal festhalten, dass unser Alltagsverstand nur seine Oberfläche berührt. Wenn wir in zwanghafte Abhängigkeiten kommen, so wie Frau Martin, dann können wir unser Gewissen so verbiegen, unsere Existenz so in die Macht eines anderen geben, dass wir die eigene Schuld wegrationalisieren. Die Möglichkeit steckt in jedem von uns.

SZ: Frau Martin wusste nicht, dass sie sich schuldig macht?

Gerl-Falkovitz: Ich kenne sie nicht. Aber man kann als Mensch so lange an einer Schuld arbeiten, sie mit Argumenten oder auch mit Angst überdecken, bis sie schweigt, zumindest an der Oberfläche.

SZ: Und in der Tiefe?

Gerl-Falkovitz: Das ist eine andere Geschichte. Die Tiefe kann vereisen oder auch aufbrechen.

SZ: Die Verletzlichkeit, haben Sie einmal gesagt, konstituiert uns als Mensch. Wir sind Leidwesen. Angst und Schmerz sind keine Ausnahmezustände, sondern Normalität. Wenn das stimmt, dann wäre das Vergeben-Lernen vielleicht die wichtigste Lebenskunst, oder?

Gerl-Falkovitz: Das unterschreibe ich sofort. Die Frage ist nur, ob wir das aus eigener Kraft können.

SZ: Warum nicht?

Gerl-Falkovitz: Weil wir fleischgewordener Egoismus sind. Für uns hört Vergebung dort auf, wo wir selbst existenziell getroffen sind. Denken Sie an die Eltern der toten Kinder. Dass sie Frau Martin vergeben, ist eigentlich menschenunmöglich. Da bedarf es einer Kraft, die über die irrsinnige Verletzung hinausgeht. Einer Kraft, von der alle religiösen Traditionen wissen, dass es sie gibt.

SZ: Setzt Vergebung Reue voraus?

Gerl-Falkovitz: In unserem Alltagsverständnis ist das sicher so. Und es ist ja auch ein sinnvoller Grundsatz, vor allem in der Erziehung. Aber in der Bibel ist es genau andersherum. Noch vor der Reue steht die Schuld schon in einem Raum der Vergebung. Und diese Vergebung ist so groß, dass der Schuldige zusammenbricht. Ich meine die Stelle bei Lukas 24, wo Petrus den Herrn verleugnet hat. Da ist er im Gefängnishof, die Feuer brennen noch, und Jesus schaut Petrus an. Ein unglaublicher Moment; der Blick ist von Rembrandt gemalt worden. Im Augen-Blick dieser Vergebung bricht Petrus zusammen "und weinte bitterlich".

SZ: Weil er seine Schuld begreift.

Gerl-Falkovitz: Weil er nicht angeklagt wird. Es ist doch so: Solange uns jemand schuldig spricht, verteidigen wir uns. Wir werden bedrängt und suchen nach Entschuldigungen. Wenn das aber wegfällt, wenn uns der vergebende Blick trifft, dann kippt es. Dann packt uns die Reue. Und dann geht es erst richtig los.

SZ: Was meinen Sie?

Gerl-Falkovitz: Der Prozess der Reue kann sehr, sehr schmerzhaft sein und Jahre dauern.

SZ: Steht das auch Michelle Martin bevor, wenn sie ins Kloster kommt?

Gerl-Falkovitz: Wenn es ihr im Gefängnis nicht gelungen ist, dann wird sie hier vermutlich mit dem was sie getan hat, konfrontiert werden, und zwar in einer ganz unerhörten Weise.

SZ: Ihre wahre Strafe würde erst beginnen.

Gerl-Falkovitz: Ja. Mit der Selbstanklage. Allerdings wäre sie dabei nicht alleine - zum Glück. Und am Ende wird sie mit Gottes Hilfe hoffentlich fähig sein, auch zu vergeben, und zwar sich selbst.

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Quelle:
SZ vom 29.08.2012/himn/vks/jobr
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