Straßen sind ja unwahrscheinliche Herzensorte, oder etwa nicht? Wenn die Franzosen an das Stück Straße denken, das die Place de la Concorde mit der Place Charles de Gaulle verbindet, an die berühmte Avenue des Champs Élysées, fast zwei Kilometer lang auf sechs Spuren im 8. Arrondissement von Paris, dann sind sie überzeugt, dass das „die schönste Allee der Welt“ ist. La plus belle avenue du monde. Ein Prädikat, als wäre es für die Ewigkeit angelegt. Okay, die Konkurrenz von New Yorks 5th Avenue nimmt man ernst. Aber hat die etwa einen Obelisken am Anfang, einen so großen Triumphbogen am Ende? Wo, bitte schön, ist die Pracht?
Aber auch Prädikate stauben an, wie alle selbstverliehenen Trophäen. Die Champs Élysées, die man eher ohne Bindestrich schreibt, sind schon lange nur noch eine wehmütige Erinnerung an vergangene Glorie, an Zeiten, da „tout Paris“, ganz Paris, rauf und runter promenierte, als man da ins Kino ging, weil es alle paar Meter schöne Säle gab, und in den Cafés saß fürs Sehen und Gesehenwerden. Lange her.
Wenn nicht Nationalfeiertage sind, samt Militärparade, wenn es nicht einen Triumph im Sport mit einem Corso zu feiern gibt, wenn nicht gerade Jahresende mit Licht und Feuerwerk ist – ja, dann meiden die Pariser diese Straße, schlimmer noch: Sie ignorieren sie.
Das letzte große Kino hat soeben endgültig geschlossen
Die Avenue gehört den Touristen, den ausländischen und denen aus der französischen Provinz. Sie ist zum großen Einkaufszentrum geworden, vor allem für Luxus, Mode, Uhren, teure Macarons. Für die Bewohner der Stadt? Gibt es fast nichts mehr. Gerade schließt das letzte große Kino, das UGC Normandie, eingeweiht 1937. Die Betreiber konnten die hohe Miete nicht mehr bezahlen. Sie haben versucht, mit dem Hausbesitzer zu reden, sie seien doch ein Monument, doch der blieb hart: Es ist der Emir von Katar. Ende des Jahres schließt dann die Fnac der „Champs“, das große Buchgeschäft.
Wer soll da noch hinwollen?
Nun aber läuft der Versuch einer „Wiederverzauberung“, so nennt es das offizielle Komitee der Freunde der Straße. Die Pariser sollen sich wieder verlieben in ihre „Champs“. Neulich gab es ein Picknick auf der Avenue, der Andrang war riesig. Die Vereinigung hat Urbanisten, Gärtner, Logistiker und Architekten dazu aufgefordert, sie mögen die Straße neu denken. Es entstand ein dickes Dokument mit Plänen und Simulationen, das liegt jetzt bei der Stadtverwaltung. Die Straße soll viel grüner werden, mit Oasen des schattigen Verweilens, mit breiteren Radwegen. Aus sechs Spuren sollen vier werden. Die vernachlässigten Gärten unten sollen generalüberholt werden, für das Spiel der Kinder am Tag und für „magic nights“ am Abend, für Konzerte, Ausstellungen. Für Leben eben.
Als Louis XIV. die Champs Élysées im 17. Jahrhundert anlegte, war die Stadt noch viel kleiner, und das hier war Natur. Wenn man auf die „Champs“ ging, ging man wirklich auf die Felder. Heute sieht man auch vom höchsten Punkt, vom Dach des Triumphbogens, nicht mehr, wo die Stadt aufhört: Beton, Stahl und Glas bis zum Horizont. Das lässt sich nicht zurückdrehen, natürlich nicht. Aber ein bisschen mehr Grün, ein paar Bäume mehr, ein paar Autos weniger, und schon hört man Joe Dassin singen, „mit offenem Herzen“, von Trompeten begleitet: „Aux Champs Élysées!“
Hinqweis der Redaktion: In der ersten Version dieses Textes hieß es, auf der 5th Avenue in New York gebe es keinen Triumphbogen; an deren Fuß, am Washington Square, steht aber einer, wenn auch ein kleinerer als in Paris.