Es ist eine kunstgeschichtliche Katastrophe. Eine städtebauliche, touristische und finanzielle. Doch wer am Montagabend auf der großen Seine-Insel oder vor den Bildschirmen in aller Welt die Flammen aus dem Dachstuhl der Kathedrale Notre Dame schlagen und den Mittelturm in Rauch und Feuer zerbersten sah, der spürte: Es ist noch mehr.
Ein Werk ist der Kulturlandschaft der Menschheit abhandengekommen, ein Bezugspunkt aus der kollektiven Weltwahrnehmung verschwunden. Zurück bleiben, wie damals nach dem Einsturz der Zwillingstürme in New York, eine Wunde und eine Verstörung.
Derart vertraut war dieses ebenso machtvolle wie filigrane Bauwerk selbst jenen, die nie in Paris waren, so verwachsen mit dieser Stadt und deren Geschichte schien es zu sein, dass seine Zerstörung unwirklich scheint. Und sie drängt nicht nur den trauernden Franzosen die Frage auf: Wenn Notre Dame in Paris nicht mehr steht, oder nur noch als Ruine, was hat dann noch Bestand? Auf was ist dann noch Verlass?

Feuer in Notre-Dame:Bilder einer Nacht, die Paris veränderte
Am Montagabend bricht ein Feuer in der Kathedrale Notre-Dame aus. Stundenlang bangen die Menschen um eines der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt.
Präsident Emmanuel Macron, der in dramatischen Momenten am überzeugendsten auftritt, nannte die Kathedrale jetzt das "Epizentrum unseres Lebens". Tatsächlich steht Notre Dame in vielerlei Hinsicht im Zentrum Frankreichs. Hier, auf der Île de la Cité, siedelten sich schon vor Jahrtausenden Menschen an. Aus diesem Ursprung erwuchs Paris. Und von hier aus bauten Könige über die Jahrhunderte Frankreich auf.
Bis heute prägt diese Geschichte das Land massiv. Das zeigen schon die Landkarten: Aus allen Ecken streben die wichtigen Straßen auf Paris zu. Und die Entfernungen der französischen Orte von der Hauptstadt werden von einer Messingplatte vor Notre-Dame ausgemessen, die den Nullkilometer Frankreichs kennzeichnet.
Notre-Dame, diese zu Stein geronnene abendländische Kunst und Geschichte, steht im Zentrum des Zentrums einer Nation, die um König und Kirche herum errichtet wurde, wobei die Kathedrale auch für viele Agnostiker und atheistische Franzosen ein wichtiger Teil ihres Lebens ist. Sie steht für französische Exzellenz und Eleganz, für einen hochfliegenden Geist, der zugleich in der Lage ist, Festes, Beständiges zu schaffen. Sie steht mit ihrem gewaltigen und trotzdem anheimelnd wirkenden Innenraum, der täglich so viele Menschen aus aller Welt aufnimmt, für französische Gastfreundschaft und für Frankreichs Ausstrahlung in alle Welt.
Paris, das nie schöner strahlt als an windgeklärten Frühjahrstagen, wurde in den vergangenen Jahren auffallend häufig heimgesucht. Islamistische Terroristen zogen mordend über Boulevards, durch Cafés und eine Redaktion. Gewalttäter, die die Sozialproteste der Gelben Westen für ihre Zwecke missbrauchten, wüteten über die Champs-Élysées, verwüsteten Geschäfte und Lokale. Doch die Pariser haben in all solchen Nöten große Widerstandskraft bewiesen und sich ihre leuchtende, weltoffene Stadt nicht dauerhaft eintrüben lassen.
Notre-Dame, das haben sie schon in der Nacht der Katastrophe angekündigt, werden sie aus den Trümmern auferstehen lassen.