Papst auf Lesbos:"Viele von ihnen haben keine Namen, aber Gott kennt sie alle"

Der Papst setzt auf der griechischen Insel Lesbos ein starkes Zeichen gegen geschlossene Grenzen. Drei muslimische Familien befreit er aus dem "Gefängnis".

Reportage von Mike Szymanski, Lesbos

Drei Blumenkränze schwimmen im Hafenbecken von Mytilini. Zum Gedenken an all jene Männer, Frauen und Kinder, die ihr Leben in der Ägäis verloren haben. Menschen, die Papst Franziskus heute nicht mehr treffen konnte.

Den ganzen Samstag über hat er bei seinem Besuch auf der Insel Lesbos schon das Gefühl vermittelt, möglichst jeden Flüchtling sehen zu wollen. Jedem einzelnen von ihnen das Signal zu geben: Ihr seid nicht allein. Und: Ihr seid auch nicht vergessen. Und nun, am Ende seines Besuches, ist er schweigend an den Rand des Hafenbeckens herangetreten. Die Schiffe der Küstenwache kreuzen vor Mytilini. Der griechisch-orthodoxe Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. und der orthodoxe Erzbischof von Athen Hieronymus II. begleiten ihn, um jetzt der toten Flüchtlinge zu gedenken. "Viele von ihnen haben keine Namen", sagt Franziskus, "aber Gott kennt sie alle". Dann werfen sie die Kränze.

Im Hafen von Mytilini geht eine Trauerfeier zu Ende. Sie soll Europa wachrütteln, richtig durchschütteln sogar. Deshalb ist der Papst für einen Kurzbesuch nach Lesbos gekommen. Und er verlässt die Insel am Nachmittag mit einer großen Geste: Zwölf Flüchtlinge nimmt er in seinem Flugzeug mit in den Vatikan. Es handele sich um drei muslimische Familien aus Syrien, darunter sechs Kinder. Dies bestätigte am Nachmittag Vatikansprecher Federico Lombardi.

Der Papst hat kein großes Aufheben gemacht. Die Familien trafen Franziskus auf dem Flughafen und stiegen in sein Flugzeug. In einer vom Vatikan herausgegebenen Erklärung heißt es später, Franziskus' Initiative sei eine Willkommensgeste an die Flüchtlinge, die bereits vor dem am 20. März in Griechenland gewesen seien. Das ist der Stichtag für das zwischen der EU und der Türkei geschlossene Flüchtlingsabkommen.

Der Papst setzt damit ein starkes Zeichen gegen Europas Politik der geschlossenen Grenzen. Griechenland hat sich in einen tieftraurigen Ort verwandelt. 50 000 Flüchtlinge sitzen in dem Land fest. Im Norden, an der Grenze zu Mazedonien, wartet ein Stacheldrahtzaun auf Flüchtlinge. Wer dagegen aufbegehrt, bekommt mit Tränengas von mazedonischer Seite zu verstehen, dass hier wirklich das Ende der Reise ist. Und wer, wie etwa die 3000 Flüchtlinge allein auf Lesbos, auf einer der griechischen Ferieninseln festsitzt und nach dem 20. März kam, muss damit rechnen, bald in die Türkei abgeschoben zu werden.

Aus den sogenannten Hotspots sind Abschiebezentren geworden. Gefängnisse, sagen die Menschen, die drinnen leben und keinen Schritt weiterkommen. Am Samstag besucht Franziskus den Hotspot Moria. "Du bist unsere Hoffnung", steht auf einem Plakat. Seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei folgt Europas Asylpolitik einer kühlen Mechanik. Flüchtlinge, die seit dem 20. März Griechenland erreichen, sollen in die Türkei zurück. Für jeden Syrer soll Europa nach der Formel 1:1 einen syrischen Flüchtling aus türkischen Camps aufnehmen.

Gerade einmal knapp 80 Flüchtlinge durften dank der Regelung bislang nach Europa. In seiner Ansprache im Hafen von Mytilini zeigt der Papst zwar Verständnis für die Sorgen der Menschen in Europa angesichts des Ausmaßes der Flüchtlingskrise. Trotzdem dürfe "man nie vergessen, dass die Migranten an erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten."

Im Lager Moria nimmt er sich viel Zeit für die Flüchtlinge. Er redet mit Kindern, die ihm selbstgemalte Bilder vom Leben hinter Stacheldraht schenken. Er richtet einen Flüchtling wieder auf, der weinend und flehend vor ihm zusammenbricht. Man kann ihm dabei zuschauen, wie er den Kummer in sich aufsaugt.

Der "Geist der Brüderlichkeit, der Solidarität und des Respekts für die Menschenwürde" habe die lange Geschichte des europäischen Kontinents geprägt, sagt er. Angesichts der Weigerung vieler EU-Länder, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, klingt dieser Satz wie eine Anklage. Sein Unbehagen über das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei lässt er an anderer Stelle aufscheinen. "Europa ist die Heimat der Menschenrechte, und wer auch immer seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, müsste das spüren können."

Es ist nicht das erste Mal, dass Franziskus zum Mahner in der Flüchtlingskrise wird. Das Thema begleitet ihn vom Anfang an. Im Juli 2013 reiste Franziskus nach Lampedusa. Damals war diese Insel zum Symbol für das Flüchtlingselend geworden. Auch damals sprach er den Flüchtlingen Mut zu und prangerte eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit" an.

Aber diese Gleichgültigkeit scheint sich festgesetzt zu haben. Man müsse sie überwinden, bittet er drei Jahre später.

Dieses Mal ist er nicht allen. Die orthodoxen Kirchenoberhäupter stehen an seiner Seite. Sie sagen, sie wollen ihre Stimmen vereinen. So steht am Ende dieses Tages eine gemeinsame Erklärung: "Von Lesbos aus appellieren wir an die internationale Gemeinschaft, mutig zu reagieren und dieser massiven humanitären Krise und den ihr zugrunde liegenden Ursachen durch diplomatische, politische und karitative Initiativen zu begegnen wie auch durch gemeinsame Anstrengungen sowohl im Nahen Osten als auch in Europa."

Auf dem Weg nach Lesbos am Morgen hatte der Papst noch gesagt, die Reise sei "von Traurigkeit gekennzeichnet". Als seine Maschine am Nachmittag wieder abhebt, hat er aber mindestens drei syrische Familien an Bord glücklich gemacht.

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