Oscar Pistorius vor Gericht:Angeklagt des Mordes

Gut ein Jahr nach den vier tödlichen Schüssen auf seine Freundin Reeva Steenkamp steht Oscar Pistorius in Pretoria vor Gericht. Mit welchen Vorwürfen ist er im Gerichtssaal genau konfrontiert? Und mit welchen Personen? Das Wichtigste zum Prozess.

Von Lena Jakat

Oscar Pistorius

Oscar Pistorius steht von 3. März an vor Gericht in Pretoria. (Archivbild vom 19. August 2013)

(Foto: dpa)

Vier Schüsse haben das Leben des Ausnahmesportlers Oscar Pistorius verändert. Vier Schüsse, die er in seinem Haus im südafrikanischen Pretoria abgab und die seine Freundin Reeva Steenkamp töteten. Gut ein Jahr nach dem Vorfall steht Pistorius von Montag an vor Gericht. Das Wichtigste zu dem spektakulären Prozess.

Die Anklage

Die Anklageschrift vom 15. August (die unter anderem hier in der Vollversion veröffentlicht ist) wirft Oscar Leonard Carl Pistorius, einem "26 Jahre alten Mann mit südafrikanischer Staatsbürgerschaft" neben illegalem Waffenbesitz ein Kapitaldelikt vor: Mord. Laut Anklage hat Pistorius "widerrechtlich und absichtlich eine Person getötet, nämlich Reeva Steenkamp". Klar ist, dass der gehbehinderte Ausnahme-Athlet in den frühen Morgenstunden des 14. Februar 2013 vier Schüsse durch eine verriegelte Toilettentür seines Hauses abgab. Drei davon trafen Steenkamp tödlich.

Im November kamen zwei weitere Anklagepunkte hinzu: Zum einen soll er 2011 durch das offene Dachfenster eines Autos Schüsse in die Luft abgegeben haben. Aus derselben Waffe, mit der er Steenkamp tötete. Und nur wenige Wochen vor dem mutmaßlichen Mord soll er bei einem Restaurantbesuch so lange mit der Waffe eines Freundes herumhantiert haben, bis sich ein Schuss löste.

Pistorius weist den Mordversuch von sich und beteuert, er habe in der Überzeugung geschossen, dass es sich bei der Person in der Toilette um einen Einbrecher handle - tragischerweise sei es jedoch seine Freundin gewesen, die gerade zur Toilette gegangen war. Die Staatsanwaltschaft ist dagegen davon überzeugt, dass es zwischen Pistorius und Steenkamp zum Streit kam, in dessen Folge der Athlet seine Freundin kaltblütig ermordete. Um dem 27-Jährigen das nachzuweisen, wird sich die Staatsanwaltschaft wohl auf mehrere Argumentationslinien stützen, darunter:

  • Im Badezimmer wurden zwei Smartphones gefunden. Wozu sollten die beim nächtlichen Toilettengang nützlich sein?
  • Zeugen geben an, einen Streit gehört zu haben. Insgesamt werden in der Anklageschrift 107 Zeugen angeführt.
  • Nach den Schüssen rief Pistorius wohl nicht als erstes die Polizei, sondern verständigte den Sicherheitsdienst der Wohnanlage sowie Freunde.
  • Steenkamp trug Alltagskleidung, keine Pyjamas. Warum, wenn sie eigentlich geschlafen hatte?

Der Tatort

Nur wenige Kilometer vom Gerichtsgebäude in Pretoria entfernt liegt Oscar Pistorius' Haus in einem bewachten Luxus-Wohnkomplex in Silverlakes. Im oberen Stock des Hauses Nummer 286 befindet sich das Schlafzimmer. Durch die Ankleide gelangt man ins Badezimmer. Dort führt eine Tür in die Toilettenkabine. Durch diese Tür wurden die tödlichen Schüsse abgegeben. Eine detaillierte Infographik veröffentlichte unter anderem die kanadische National Post.

Die Richterin

Hätte sich ihre Karriere nur ein wenig anders entwickelt, Richterin Thokozile Matilda Masipa würde vermutlich als eine der geschätzt 300 Journalisten an jedem Prozesstag zu dem mächtigen roten Gebäude im Stadtzentrum von Pretoria fahren. Denn bevor Masipa mit Ende vierzig Juristin wurde, arbeitete sie als Polizeireporterin, berichtete über Fälle, in denen sich die Ungerechtigkeit des Apartheid-Regimes widerspiegelte. Als zweite schwarze Frau überhaupt wurde Masipa 1998 in den Richterstand berufen.

Seit klar ist, dass sie allein - in Südafrika wurde das Jury-System 1969 abgeschafft - über Pistorius' Zukunft entscheiden wird, werden immer wieder zwei Fälle aus ihrer bisherigen Karriere genannt. Diese Verfahren, in denen sie Gewalttäter gegen Frauen zu langen Haftstrafen verurteilte, sind auch der Grund dafür, dass Frauenrechtlerinnen Masipas Vorsitz über den Pistorius-Prozess begrüßen. Erst im Mai vergangenen Jahres schickte Masipa einen Vergewaltiger, der drei Frauen in ihren Schlafzimmern überfallen hatte, für 252 Jahre hinter Gitter. "Das Schlimmste ist, dass er die Opfer im Schutz ihres Heims angriff und vergewaltigte, wo sie sich sicher fühlten", zitiert die Zeitung Mail & Guardian aus dem damaligen Urteilsspruch. Dem Blatt zufolge gilt Masipa unter ihren Kollegen als scharfsinnig, eloquent und zugleich als jemand, der sich selbst zurücknimmt. Diese Besonnenheit könnte ihr zugute kommen, wenn sich die Kameras der Welt auf ihren Prozess richten.

Routinierte Anwälte und eine 30-jährige Juristin

Die Verteidigung

Kaum überraschend, hat Pistorius ein hochkarätiges und hochbezahltes Heer aus Anwälten und Rechtsexperten um sich gesammelt. Wie der britische Independent berichtet, gehören zu seinem Team ein forensischer Geologe (seine genaue Funktion in diesem Strafprozess bleibt abzuwarten) und die US-Firma Evidence Room, die sich auf die grafische Darstellung von Tatorten und Tatabläufen spezialisiert hat. Dem Bericht zufolge soll womöglich auch der Forensiker Henry Lee zu Pistorius' Rechtsteam gehören, der als Zeuge im O.J.-Simpson-Prozess berühmt wurde - das ist aber nicht bestätigt.

Hauptdarsteller in dem Ensemble der Verteidigung ist jedoch Barry Roux. Der Anwalt, der auf mehr als drei Jahrzehnte Berufserfahrung zurückgreifen kann und etliche spektakuläre Prozesse gewonnen hat, ist durch diesen Fall bereits zum Star geworden. Während der dreitägigen Anhörung im vergangenen Februar, die klären sollte, ob der Athlet gegen Kaution freikommt, zerlegte Roux die Argumentation der Staatsanwaltschaft knallhart Punkt für Punkt.

Der damalige Chefermittler in dem Fall, Hilton Botha, musste in Roux' Kreuzverhör nicht nur einräumen, dass es keine Beweise gab, die Pistorius' Version der Tatnacht widersprechen. Sondern sah sich plötzlich mit längst erledigt geglaubten Vorwürfen konfrontiert: Botha soll sich nämlich selbst des siebenfachen Mordversuchs schuldig gemacht haben. Er wurde von dem Fall Pistorius abgezogen, die Glaubwürdigkeit der Ermittler war massiv beschädigt und Verteidiger Roux klar im Vorteil. Im Justizduell mit dem Anklagevertreter wird sich zeigen, inwieweit Roux diesen Vorteil ausbauen kann. Sein Gegner ist nicht irgendjemand.

Der Staatsanwalt

Der Mann, der Oscar Pistorius und seinen Anwälten im Gericht von Pretoria gegenübersteht ist "ein Künstler darin, die Beweislage zu schildern", heißt es auf der südafrikanischen Nachrichtenseite iol News: Gerrie Nel. Pistorius ist nicht sein erster berühmter Angeklagter.

Jackie Selebi steht stellvertretend für die Schwierigkeiten, mit denen die junge Demokratie nach dem Ende des Apartheid-Regimes zu kämpfen hatte: Amtsanmaßung, Korruption, dysfunktionale Institutionen. Es war Nel, der Selebi, früherer Freiheitskämpfer, nationaler Polizeichef und Präsident von Interpol, 2010 wegen Korruption für 15 Jahren ins Gefängnis brachte. Nel wurde berühmt dafür, dass er dem einstigen Helden der Anti-Apartheid-Bewegung ins Gesicht sagte, er sei ein arroganter Lügner.

Der Jurist gilt als schlagfertig und engagiert, ihm wird außerdem ein erhebliches Maß an Entschlossenheit nachgesagt. Bei iol News heißt es außerdem über ihn: "Druckausübung und Einschüchterung sind ihm nicht fremd". Im vergangenen Jahr konnte Nel das Gericht davon überzeugen, Pistorius wegen Mordes anzuklagen. Nun liegt es an ihm, diesen Vorwurf auch zu beweisen.

Das Opfer

Reeva Steenkamp wurde 30 Jahre alt. Die studierte Juristin arbeitete als Model, Sie warb für die Kosmetikfirma Avon, zierte das Cover des Magazins FHM. Sie hatte gerade die Dreharbeiten für die Realityshow "Tropika Island of Treasure" abgeschlossen, die erste Folge wurde zwei Tage nach ihrem Tod ausgestrahlt.

Am 4. November 2012 hatte sie sich bei der Verleihung der South African Sports Awards zum ersten Mal an als die Frau an der Seite von Oscar Pistorius gezeigt. Dem Spiegel schilderte Pistorius' Manager Peet van Zyl später eine glückliche Beziehung. Reisen an die Copacabana, in die Toskana. "Er fragte mich auch, ob ich Konzertkarten für die zwei besorgen könne", sagte van Zyl. "Um so etwas hatte er mich noch nie gebeten. Oscar hat Reeva geliebt. Mord? Das ergibt für mich keinen Sinn." Steenkamp, eine bekannte Größe der Johannesburger Partyszene, setzte sich gegen sexuelle Gewalt ein, und sollte in den Tagen nach ihrem Tod einen Vortrag vor Schülern in Johannesburg halten. Über Selbstbewusstsein und Inspiration.

Steenkamps Mutter June wird den Prozess wohl vor Ort verfolgen. Steenkamps Vater Barry erholt sich von einem schweren Schlaganfall, der ihn ereilt haben soll, als er in der Zeitung über den Fall Pistorius las.

Der Angeklagte

Oscar Pistorius, der "Blade Runner", der als zweifach amputierter Läufer etliche Rekorde brach, der sich im Jahr vor Steenkamps Tod das Recht erstritten hatte, bei den Olymischen Spielen in London anzutreten, wurde von Behinderten und Nichtbehinderten gleichermaßen als Inspiration gefeiert. Und von dem zerrissenen Land Südafrika als einer der wenigen unumstrittenen Nationalhelden. Mit erst Mitte zwanzig war Oscar Pistorius eine Ikone. Bis zum 14. Februar 2013. Nach den vier Schüssen, die alles veränderten, wurden vermehrt auch Stimmen laut, die von Pistorius' Selbstherrlichkeit und cholerischen Momenten berichteten, von seinem Waffenfimmel und den "falschen Leuten", mit denen er sich umgeben habe.

Lesen Sie hier ausführliche Porträts über den Ausnahmesportler:

Die Debatte

Im Gerichtssaal des High Court in Pretoria wird nicht nur der Mordvorwurf gegen Oscar Pistorius verhandelt. Sondern auch die Frage, welchen Stellenwert das Recht auf Selbstverteidigung einnimmt in einem Land mit einer der höchsten Kriminalitätsraten der Welt und durchschnittlich 45 Morden pro Tag. Die Frage, warum nicht mehr getan werden kann gegen Gewaltverbrechen - die sich so oft auch gegen Frauen richten. Alle acht Stunden wird in Südafrika eine Frau von ihrem Partner getötet. Aktivistinnen wollen den Prozess gegen Pistorius für ihre Sache nutzen. Die Women's League der Regierungspartei ANC hat Proteste vor dem Gerichtsgebäude angekündigt. Drinnen geht es nicht zuletzt auch um eine Frage, die Südafrika noch immer umtreibt: Sind vor dem Gesetz wirklich alle gleich? Auch mächtige reiche Weiße?

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