Orkantief "Xaver":Sturm der Gefühle

Orkantief Xaver Hamburg

Eine vom Deutschen Wetterdienst herausgegebene Karte zeigt, wie schwer Orkantief Xaver am Donnerstagabend stürmen könnte.

(Foto: dpa)

Das Orkantief "Xaver" erinnert die Hamburger an die Überschwemmungen und die mehr als 300 Todesfälle von 1962. Dennoch bleibt man an der Elbe gelassen - obwohl die Ähnlichkeiten mit dem Sturm von damals frappierend sind.

Von Christopher Schrader

Die Hamburger Perlenkette beginnt am Museumshafen von Övelgönne. Hier liegt ein altes Feuerschiff, die Elbe-3, und blickt den einlaufenden Schiffen entgegen. Hinter ihrem Heck reihen sich Häuser entlang der Elbe, liebevoll restaurierte Speicher und anspruchsvolle Neubauten mit Büros, Wohnungen und Restaurants. Die Kette reicht bis zum St. Pauli Fischmarkt, die Promenade entlang zu den Landungsbrücken und endet am Rohbau der Elbphilharmonie. Dazwischen liegt, noch weit am Anfang, eine breite Freitreppe. Eine der Stufen ziert ein rotes Band: "1962" steht darauf. So hoch, soll das zeigen, stand hier im Februar vor 51 Jahren das Wasser der Sturmflut.

Die Erinnerung an 1962, an die Überschwemmungen und die gut 300 Todesfälle sind an der Elbe allgegenwärtig. Kein Wunder, dass die Ankündigung elektrisierte, Orkan Xaver könne in der Nacht von Donnerstag auf Freitag eine Sturmflut "wie 1962" auslösen. In Hamburg selbst nahm man die Warnung zwar ernst, aber gelassen. Das Hamburger Abendblatt hatte seine Ausgabe am Mittwoch mit dem Vergleich aufgemacht, aber eine Flutwelle wie 1962 würde die Hansestadt heute kaum noch erschüttern. Einige Parkplätze vor dem Deich und den Fluttoren würden planmäßig überschwemmt, an die Garagenmauern der Hafencity würde das Wasser schwappen. Das rote Band an der Freitreppe könnte wieder nass werden.

Orkantief Xaver Hamburg

Bei der großen Sturmflutkatastrophe im Februar 1962 starben mehr als 300 Menschen, davon alleine 200 im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg.

(Foto: dpa)

"Die Ähnlichkeiten sind frappierend"

Die Parole 1962 hat Niklas Weise vom Institut für Wetter- und Klimakommunikation (IWK) in Hamburg ausgegeben, das ist ein privater Wetterdienst. "Die Ähnlichkeiten sind frappierend, der Orkan 1962 könnte die Blaupause für Xaver sein", sagt er. Das Tiefdruckgebiet zieht vom Atlantik über den Norden der Britischen Inseln nach Skandinavien. Der Luftdruck in seinem Inneren sinkt immer weiter auf Werte unter 970 Hektopascal. Die Windrichtung springt dabei nach Weises Aussagen von Südwest auf Nordwest um, die Böen bringen polare Kaltluft, die Kaltfront überquert Norddeutschland und verwandelt den Regen in Schnee.

Auf den Wegen, Straßen und Schienen dürften Glätte und umgestürzte Bäume das zentrale Problem werden. An der Küste ist es das Wasser. Wind aus Nordwest schiebt es die Elbe hinauf Richtung Hamburg. Der vom Meer zur Stadt schmaler werdende Fluss wirkt wie ein Trichter, darum hat Hamburg am Pegel St. Pauli schon normalerweise einen Tidenhub von 3,67 Metern. Doch wenn das Wasser bei Ebbe nicht ablaufen kann, weil der Wind dagegen drückt, steigt der Pegel bei Flut noch stärker. "Der Wind wird in Norddeutschland 24 Stunden lang stark aus Nordwest wehen", sagt Weise. Drei Hochwasser nacheinander kann er aufpeitschen. Darum warnt auch das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie vor einer schweren Sturmflut. Der Höchststand könnte am Freitagmorgen um sechs Uhr in Hamburg 2,50 bis drei Meter über dem normalen Hochwasser liegen, sagt Sylvin Müller-Navarra, Leiter der Vorhersageabteilung.

Der Einfluss des Mondes

Bleibt es dabei, steigt der Pegel in St. Pauli auf bis zu 5,11 Meter über Normalnull. 1962 war es ein guter halber Meter mehr: 5,70 Meter. Und bei der höchsten je registrierten Sturmflut im Januar 1976 sogar 6,45 Meter. Verschärft wurde die Lage in beiden Fällen noch durch den Stand des Mondes. Weil die Schwerkraft von Sonne und Erdtrabant bei Neu- und Vollmond auf derselben Achse wirken, fällt die Flut dann ohnehin höher aus. Trifft jetzt ein Orkan mit Nordwestwind auf die Nordseeküste, sind die Zutaten für eine schwere oder sehr schwere Sturmflut bereitet. So war es 1962 und 1976. Und so könnte es auch bei Xaverkommen: Am vergangenen Dienstag war Neumond.

"Jede Sturmflut ist anders"

Müller-Navarra kann trotzdem dem Vergleich mit 1962 wenig abgewinnen. "Jede Sturmflut ist anders", sagt er. Es komme empfindlich auf die zeitliche Abfolge an, zum Beispiel ob der Wind erst gegen Mitternacht zwischen Donnerstag und Freitag von Stärke neun auf zehn auffrischt oder schon früher. Anders als 1962 sieht Hamburg dem Wasser außerdem gut vorbereitet entgegen. "Es besteht keine akute Überschwemmungsgefahr für irgendwelche Stadtteile", sagt Niklas Weise. Schon 1976 hatte das Hochwasser keine bewohnten Gebiete mehr überflutet.

Weises IWK ist mit seiner Warnung vorgeprescht, als sich der amtliche Deutsche Wetterdienst DWD noch zurückhielt. Die Meteorologen in dessen Zentrale in Offenbach wie im Hamburger Büro sahen den Orkan auch kommen, sie verfügen über dieselbe Information wie die private Konkurrenz. Aber ihre Warnungen haben amtlichen Charakter, Leitstellen und Rettungsorganisationen stellen sich darauf ein.

Die Warnungen des DWD kommen in drei Stufen, erklärt Pressesprecher Andreas Friedrich. Bis zu einer Woche vor dem Ereignis findet sich auf der Webseite des Dienstes eine "Wochenvorhersage Wettergefahren" in Textform. Zwei bis drei Tage vor einem Sturm platzieren die Meteorologen Warnhinweise auf einer Karte der Bundesländer. Frühstens 30 Stunden bevor es losgeht, kommen landkreisgenaue Unwetterwarnungen, die Karte färbt sich dann rot oder gar violett.

Solche Warnungen für Norddeutschland, zunächst vor den Orkanböen, hat der DWD am Mittwochabend ausgesprochen.

Die Hierarchie der Wetterberechnung

Die zeitliche Abfolge korrespondiert mit einer Hierarchie der Wetterberechnung. Die Verhältnisse in der Atmosphäre werden im Zwölf-Stunden-Rhythmus per Supercomputer simuliert. Die von Wetterstationen und -ballons erhobenen Messdaten fließen zunächst in globale Modelle. Diese überziehen die Erde mit einem Netz von 30 Kilometer großen Maschen und blicken eine Woche in die Zukunft. Das treibt im zweiten Schritt eine Europasimulation mit Sieben-Kilometer-Maschen an, die drei Tage Wetter berechnet. Und diese liefert Material für eine Deutschlandprognose über 30 Stunden, hier liegen die Rechenpunkte im Abstand von 2,8 Kilometern.

Diese Vorhersage wird sogar bis zu 30-mal mit leicht veränderten Eingabewerten ermittelt, um zu erkennen, wie abhängig das Resultat von leichten Messfehlern ist. "Eine Warnung wird daraus erst, wenn unsere Meteorologen und der sogenannte Supervisor in Offenbach die Prognose mit ihrer Erfahrung abgleichen und justieren", sagt Friedrich. Sie wüssten schließlich, wo die Rechenverfahren ihre Stärken und Schwächen haben.

Das erklärt, warum verschiedene Wetterdienste die Lage manchmal unterschiedlich beurteilen. Diesmal warnen alle.

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