Nachdem Vorwürfe sexuellen Missbrauchs öffentlich wurden, haben in der vergangenen Woche nicht nur Berlin und Brandenburg, sondern auch Bayern verdeutlicht, dass das umstrittene Programm "Original Play" in Kitas und Kindergärten nicht angewendet werden soll. Bayerns Familienministerin Kerstin Schreyer fand klare Worte: "Das sogenannte 'Original Play' öffnet dem Missbrauch Tür und Tor." Der Kinderschutzbund geht noch weiter, und forderte diese Woche ein bundesweites Verbot. Bei "Original Play", frei übersetzt "ursprüngliches Spiel", kommen fremde Erwachsene in Kitas und Kindergärten, um dort mit Kindern zu spielen und zu balgen. Dadurch, so der Ansatz, würden alle ein neues Körperbewusstsein entwickeln. Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik, erklärt, warum sie das jenseits der Missbrauchsvorwürfe grundsätzlich für einen fragwürdigen Ansatz hält.
Frau Becker-Stoll, "Original Play" gibt es schon seit 15 Jahren in Deutschland, warum ist es erst jetzt in Verruf geraten?
Man muss vielleicht einmal sagen: "Original Play" ist kein Massenphänomen, das ist nichts, was flächendeckend in Deutschland in Kitas und Kindergärten Einzug gehalten hätte.
Aber gab es vorher keine Alarmzeichen?
Ich selbst habe das erste Mal erst vor eineinhalb Jahren überhaupt davon gehört. Damals kam eine Kollegin zu mir, sie kannte ein Kind, das in Berlin in einer Einrichtung war, in der "Original Play" ihre Programme gemacht haben. Sie wollte meine fachliche Einschätzung dazu hören.
Und wie sah die aus?
Ich habe mich kundig gemacht, mir die Internetseiten der Organisation angesehen und auf Youtube Videos angeschaut. Und mir ist es eiskalt den Rücken runtergelaufen.
Warum?
Es ist nicht nur in fachlicher Hinsicht grober Unfug und entbehrt wirklich jeder wissenschaftlichen Grundlage, sondern sieht für mich aus wie eine Einladung für Pädophile: Erwachsene Menschen, die im engen und intensiven Körperkontakt mit Kindern toben, raufen oder balgen - mit Kindern, die diese Personen nicht kennen.
"Original Play" selbst behauptet ja, sie würden im Gegenteil durch ihre Methode Kinder befähigen, ihren Körper besser kennenzulernen. Sie würden also Prävention gegen Übergriffe betreiben. Missbrauch sei nicht möglich, weil ja immer mehrere Erwachsene bei den Spielen dabei seien, darunter auch die Leitung der Einrichtungen. Zudem seien die Ermittlungen wegen Missbrauchs von Seiten der Staatsanwaltschaft eingestellt worden.
Mehrere Erwachsene mit Kindern in einem Raum sind kein Beweis für einen Schutz, wirklich nicht. Und jenseits der Missbrauchsverdächtigungen: Warum sollten Kinder mit fremden Erwachsenen raufen wollen?
"Original Play" sagt, alles beruhe auf Freiwilligkeit.
Auch in einem Kindergarten gibt es Gruppendynamiken und Spiele, die von den Erziehern unterstützt werden, denen müssen sich Kinder auch erst einmal aktiv entgegensetzen. Aber, für mich als Wissenschaftlerin viel entscheidender: Alle Babys fangen um den achten Monat an zu fremdeln. Das ist ein Schutzmechanismus, den die Natur eingerichtet hat. Ja, Kinder haben Sehnsucht nach Körperkontakt. Aber nur zu vertrauten Personen, bei denen sie sich geborgen fühlen. Es ist vollkommen widersinnig, als fremde Person das aus dem Nichts anzubieten. Wenn Sie einen Fahrradunfall haben, dann freuen Sie sich, wenn Fremde den Notarzt anrufen, aber sie wollen von denen nicht in den Arm genommen werden. Weil es sich falsch anfühlt. Weil es, ja, übergriffig ist.