Österreich:Ski-Held Toni Sailer und die Frage nach der Schuld

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Toni Sailer, der Liebling der Nation, auf dem Filmball 1959 in Wien. (Foto: imago/ZUMA/Keystone)

Ist es legitim, neue Details zu einem alten Vergewaltigungsvorwurf zu veröffentlichen, wenn der Protagonist tot ist? Österreich diskutiert über den einstigen Volkshelden Toni Sailer.

Von Johannes Knuth, Kitzbühel

Die Frage ist von großer Wichtigkeit, die Skigemeinde wird sie wohl bis zum Samstag verhandeln, wenn in Kitzbühel wieder die berüchtigte Abfahrt auf der Streif stattfindet: Kommt er? Im vergangenen Jahr war Arnold Schwarzenegger jedenfalls zu Gast, so wie all jene der Abfahrt in Kitzbühel ihre Aufwartung machen, die in Österreich prominent sind oder angeblich prominent. Der Mythos Kitzbühel lebt von den Berühmtheiten, die sich im Stadion drängen. Und er lebt von den Skilegenden, deren Fotos überlebensgroß an den Tribünen hängen, wie Denkmäler aus Stoff: Sepp Ferstl, der einzige deutsche Abfahrtssieger. Hansi Hinterseer, der skifahrende Alpenbarde. Toni Sailer, der bekannteste Sohn Kitzbühels. Und genau der ist jetzt das große Thema. Oder das große Problem.

Sailer, Jahrgang 1935, war 23, als er mit dem Rennfahren aufhörte. Aber die kurze Zeit reichte, um zum Volkshelden aufzusteigen: Er gewann bei Olympia 1956 in Cortina d'Ampezzo Gold im Slalom, Riesenslalom und in der Abfahrt. Nach der Rennkarriere wurde er Funktionär im Österreichischen Skiverband (ÖSV), war 20 Jahre lang Rennchef in Kitzbühel. Er spielte in Filmen mit, sang Schlager, Text-Kostprobe: "Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt/gute Laune ist mehr wert als Geld." Sailer starb 2009 an einem Gehirntumor, sie nannten ihn bis zuletzt "Blitz von Kitz".

Ruhm überdauert oft die Fakten, das gilt besonders für die unschönen Dinge - wie jenen Vergewaltigungsvorwurf, der 1974 an die Öffentlichkeit drang und schon fast vergessen war. Jetzt, im Zuge der "Me Too"-Debatte, wurde die Geschichte wieder emporgespült. Die alte Geschichte, sagen viele.

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Der Vorfall, den die Österreicher gerade aufgekratzt verhandeln, ereignete sich am 6. März 1974, im polnischen Zakopane fand ein Slalom statt. Zwei Funktionäre und eine Prostituierte sollen den angeblich alkoholisierten Sailer in einem Hotelzimmer getroffen haben. Kurz darauf rief Sailer in der österreichischen Botschaft an. Man habe ihm den Pass abgenommen, eine Prostituierte werfe ihm Vergewaltigung vor. Die Zeitungen vermeldeten den Vorwurf knapp, Sailer habe 5000 Dollar Kaution hinterlegt, einen Tag später durfte er ausreisen. Das Verfahren versandete. Sailer behauptete, ihm sei eine "Falle" gestellt worden, darauf ließen es alle beruhen. Und jetzt?

Der Standard, das Recherchekollektiv Dossier und der Radiosender Ö1 veröffentlichten soeben einen bislang unbekannten Schriftsatz aus dem Justizministerium. Demnach habe die Regierung unter Kanzler Bruno Kreisky massiv interveniert, um Sailer zu retten. Aufgeführt werden detailliert die Verletzungen der Prostituierten: "Prellungen in der Steißbeingegend, Blutgeschwulst der rechten Augenhöhle, Bisswunden am rechten Oberarm, Blutgeschwulst am Knochenrand der rechten Achsel und am Oberschenkel. In Folge dieser Körperschädigungen sind die Körperfunktionen für den Zeitraum bis zu 7 Tagen gestört worden." Die Botschaft und das Außenministerium hätten "mit großem Nachdruck bei der Staatsanwaltschaft in Zakopane und im polnischen Außenministerium" eingewirkt. Bald seien alle Parteien bereit gewesen, "die Angelegenheit einvernehmlich aus der Welt zu schaffen". Das kommunistische Polen öffnete sich gerade, der Ministerpräsident wollte Österreich besuchen, es ging um Handelsbeziehungen. Polens Behörden entschieden sich laut Schriftsatz, den Vorfall nicht mehr als Vergewaltigung zu behandeln, sondern als Körperverletzung. Zu einer Anklage kam es nicht.

Die Heldenverehrung ist ins Stocken geraten

Was geschieht, wenn im Zuge der aktuellen Debatte um sexuelle Gewalt alte Geschichten wieder auf die Agenda kommen? Wird das zum Anlass genommen, über Machtmechanismen zu diskutieren, über eine Kultur des Wegsehens, darüber, ob sich etwas geändert hat? Österreichs Skilegenden reagierten empört. Unser Toni, ein Vergewaltiger? Ah, geh! "Ich finde es beschämend, einen Toten nach so langer Zeit so anzuschwärzen", sagte Annemarie Moser-Pröll, die erfolgreichste Rennläuferin des Landes. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Toni so was überhaupt gemacht hat", assistierte Franz Klammer, Olympiasieger 1976 in der Abfahrt. Die Krone, Österreichs größtes Boulevardblatt und Sponsor des ÖSV, schrieb: Was vor 44 Jahren einer polnischen Prostituierten in einem schmuddeligen Hotelzimmer widerfahren sei, sei "komplett wurscht". Die Frage sei doch, wem die Demontage Sailers nütze: "All jenen, die dem mächtigen und erfolgreichen Österreichischen Skiverband mit seinem mächtigen und erfolgreichen Präsidenten Peter Schröcksnadel schaden wollen".

Das Klima ist gereizt, seit die ehemalige Rennfahrerin Nicola Werdenigg im November über sexuellen Missbrauch im alpinen Skisport der 70er-Jahre berichtet hat. Der affärenerprobte Schröcksnadel versprach damals, man werde alles auf den Tisch legen. Wie sehr man das wirklich will, davon vermittelt der Umgang mit Sailers Fall eine Ahnung. Der ÖSV teilte mit: "Das war keine ÖSV-Geschichte, das war nur eine Geschichte von Toni Sailer."

Der Fall steht freilich nicht allein in diesen Zeiten, in denen die Heldenverehrung ins Stocken geraten ist, in denen auch deutsche Sportkaiser wie Franz Beckenbauer ins Visier von Ermittlungsbehörden rücken. Auch wenn die Vergewaltigungsvorwürfe lange zurückliegen, scheint die Debatte an Fahrt zu gewinnen, zumindest außerhalb des Skisports. "Man muss das Politik- und Mediensystem von damals infrage stellen", sagte der Politikwissenschaftler Peter Müller der Tiroler Tageszeitung: "Die Sache wurde totgeschwiegen, um keine Wellen zu erzeugen." Sailers Siege waren mehr als die Siege heutiger Tage, sie malten das Bild einer unbeschwerten Skination; das förderte auch den Tourismus. "Sailer ist eine zentrale Figur der fordistischen Wiederaufbaugeneration", sagte der Wiener Historiker und Sportwissenschaftler Rudolf Müllner im Standard: "Dass er etwas in seinem Privatleben macht, das ihn nicht so besonders attraktiv darstellen würde, will man nicht hören, solange man nicht muss."

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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