Süddeutsche Zeitung

Österreich-Kolumne:Eine Frage der Solidarität

Warum es einen Unterschied macht, ob sich Zehntausende Menschen zum stillen Gedenken treffen oder zum lauten Corona-Protest. Und was sich vor Weihnachten von einer Wiener Millionenerbin lernen lässt.

Von Valentina Reese

In dieser Pandemie ist ein Wort sehr oft gefallen: Solidarität. Sie wird seit eindreiviertel Jahren eingefordert, gelebt, bemüht, verschmäht, ignoriert. Und jetzt, so kurz vor Weihnachten, wurde mir noch einmal vor Augen geführt, wo Solidarität anfängt - und wo sie endet.

In der Wiener Innenstadt versammelten sich am vergangenen Sonntag an die 40 000 Menschen, um mit einem Lichtermeer aus Kerzen der Corona-Toten in Österreich zu gedenken. Eine Woche zuvor hatten an genau demselben Ort etwa ebenso viele Menschen gegen die Corona-Maßnahmen und die Impfpflicht demonstriert. In den sozialen Medien wurde daraufhin hitzig diskutiert, warum es denn in Ordnung sei, wenn die einen auf die Straße gingen - und die anderen nicht. Ist nicht beides die Ansammlung einer Menschenmasse und in einer Pandemie unverantwortlich? Darf man unterscheiden in gute Demo und schlechte Demo?

Ja, das darf man. Denn am Ende kann man zwischen den beiden Gruppen eine scharfe Trennlinie ziehen, und zwar entlang des Motivs. Wenn sich Menschen unter Achtung der geltenden Corona-Regeln - also mit FFP2-Masken und dem nötigen Sicherheitsabstand - auf der Ringstraße versammeln, um Kerzen für Verstorbene zu entzünden und dem Spitalspersonal zu danken, dann geht es dabei vor allem darum, ein kleines Zeichen der Solidarität zu setzen. Nach dem Motto: Wir akzeptieren die geltenden Maßnahmen, wir denken an unsere Mitmenschen und an jene, die in überfüllten Krankenhäusern um das Leben jedes Erkrankten kämpfen.

Nachvollziehbar, aber unsolidarisch zugleich

Warum ging die Gruppe aus Impfgegnern, Querdenkern und Rechtsextremen auf die Straße? Dabei mögen zwar wichtige Themen wie Grundrechte eine Rolle gespielt haben, im Kern ging es dabei doch um persönliche Freiheit. Darum, sich nicht impfen lassen und sich nicht einschränken zu müssen. Das ist nachvollziehbar, aber zugleich vollkommen unsolidarisch. Denn wer nicht bereit ist, das bisschen an Freiheit aufzugeben, der trägt zur Weiterverbreitung eines Virus bei, das Menschenleben fordert. Am Ende ist es also nur eine Frage der Solidarität.

Apropos Solidarität: Darum geht es auch Marlene Engelhorn. Die 29-jährige Wienerin ist eine Nachfahrin des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn - und wird von ihrer Großmutter Traudl einmal einen zweistelligen Millionenbetrag erben. Sie will mindestens 90 Prozent davon abgeben. Warum? "Es gibt Menschen, die mit unglaublichem Vermögen auch unglaubliche Lebenschancen und Macht vererbt bekommen, und dafür, wie ich, überhaupt nichts geleistet haben. Das ist nicht gerecht", hat sie meinem Kollegen Caspar Busse und mir im Gespräch erklärt.

Für Engelhorn bedeutet Solidarität, etwas aufzugeben zum Wohle der Gesellschaft. In ihrem Fall ist es der Großteil des ihr vererbten Vermögens - weil sie mit den übrigen zehn Prozent immer noch gut leben kann. Besser als die meisten Menschen.

Was sie opfert, würde man meinen, ist also nicht sehr hoch. Und dennoch zeigt sich gerade bei der Besteuerung von Vermögen, dass bei der Solidarität in unserer Gesellschaft noch Luft nach oben ist. Wir weigern uns in so vielen Lebensbereichen, etwas aufzugeben, auch wenn es allen - und vielleicht am Ende sogar uns selbst - nützt. Lassen Sie uns zu Weihnachten darüber nachdenken, wie uns das in Zukunft ein bisschen weniger schwerfällt.

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