Ein einziges Wort ist es gewesen, das alles nach oben gespült hat: "Bürgerkrieg". Gertrude Pressburger bebt noch heute, wenn sie daran denkt, wie der FPÖ-Chef und heutige Vizekanzler Heinz-Christian Strache darüber schwadronierte, dass ein solcher Bürgerkrieg in Österreich mittelfristig nicht unwahrscheinlich sei. Denn plötzlich waren in ihr die alten Bilder wieder da, Wien 1934, sie hat die Schüsse noch einmal gehört auf den Straßen. "Ein junger Mann und eine junge Frau lagen tot auf dem Boden", sagt sie heute. "Das habe ich nie vergessen."
Das eine Wort war ein Wort zu viel, und Gertrude Pressburger hat ihr Schweigen gebrochen. 90 Jahre ist sie alt, eine freundliche Dame mit schlohweißem Haar, eine Holocaust-Überlebende - in Österreich ist sie als "Frau Gertrude" zur Ikone all derer geworden, die den Parolen der Rechten etwas entgegensetzen wollen. Es ist ihr Leben, das ihr dazu die Autorität verliehen hat. Ein Leben, von dem sie nie sprechen wollte, und wenn sie es nun tut, dann nur aus einem einzigen Grund: "Es braut sich rundherum wieder so viel zusammen, nicht nur in Österreich."
Im ersten Schritt hat sie im Bundespräsidentenwahlkampf 2016 auf Straches Bürgerkriegsgerede mit einem Video geantwortet, das auf der Facebook-Seite des grünen Kandidaten Alexander Van der Bellen gepostet und millionenfach angeklickt wurde. Eindringlich warnt sie darin vor extremer Rhetorik und einer Verrohung der Sprache, die "nur das Niedrigste aus den Leuten herausholt, nicht das Anständige". Dass die Boulevardpresse sie daraufhin zur heimlichen Wahlsiegerin erklärt hat, findet sie selbst "einfach nur lächerlich". Doch ihr Video war nach Einschätzung vieler mit ausschlaggebend dafür, dass nicht der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer, sondern der von ihr empfohlene Grüne Van der Bellen die Stichwahl gewann.
Nun folgt der zweite Streich, pünktlich zur Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ: Gertrude Pressburger hat ihre Erinnerungen zusammengefasst. "Gelebt, erlebt, überlebt", heißt das Buch, aufgezeichnet wurde es von Marlene Groihofer. Jahrgang 1927 ist die eine, 1989 die andere, und wenn die beiden nebeneinandersitzen, dann wirken sie wie Oma und Enkelin. Eine Schicksalsgemeinschaft sind sie in jedem Fall geworden, denn Gertrude Pressburger hat der jungen Journalistin mehr anvertraut als jemals einem Menschen zuvor. Schmerzhaft war die Erinnerung, quälend vor allem in den langen Nächten danach. Szenen von früher haben ihr den Schlaf geraubt. "Szenen, von denen ich oft gar nicht wusste, dass ich sie noch weiß", sagt Gertrude Pressburger.
Alles war ja so tief abgelegt, verschüttet, verdrängt. Die ersten Toten, die da 1934 auf der Straße lagen. Der Aufmarsch der Nazis nach dem "Anschluss" Österreichs 1938, und dann der so verhängnisvoll falsche Satz ihrer Mutter, dass "Hitler hier keine Zukunft hat". Die Familie ging sonntags in die Kirche, die Kinder waren getauft, doch die Nazis und bald auch die Nachbarn verfolgten sie wegen ihrer jüdischen Wurzeln. Sie mussten fliehen, nach Kroatien, Slowenien, Italien. Nirgends durften sie lange bleiben, nirgends war es sicher. Schließlich wurden sie nach Auschwitz deportiert. Am 10. April 1944, dem letzten Tag, an dem Gertrude Pressburger ihre Eltern und ihre beiden Brüder sah.