Odai K.:Wo Stolz und Schrecken Nachbarn sind

Syrian Teen Dies Following New Year's Eve Attack

Lüssum ist ein buntes Quartier, die meisten Bewohner gehören einer Minderheit an.

(Foto: Alexander Koerner/Getty)

Der Bremer Norden gilt als sozialer Brennpunkt, kommt damit aber eigentlich gut zurecht. Der gewaltsame Tod eines Flüchtlings stellt alles infrage.

Von Thomas Hahn, Bremen

Vor dem "Haus der Zukunft" in der Siedlung Lüssumer Heide zeigt die Pastorin Ulrike Florian durchs graue Tageslicht über die Straße. Dort ist es. Dort ist der Ort, an dem Lüssums Stolz und Schrecken unmittelbare Nachbarn sind. Im niedrigen Backsteinanbau, der aus dem Wohnhaus hervorspringt, ist seit September die neue Kita untergebracht. Direkt daneben ist die Gaststätte, die in der Silvesternacht für den 15-jährigen Syrer Odai K. auf der Flucht vor der Wut der anderen zur Todesfalle wurde. Ulrike Florian kann es nicht begreifen, dass hier Menschen einen anderen Menschen zu Tode geprügelt haben.

Natürlich kennt sie das Gerede von Lüssum als Vielvölker-Hotspot der Frustrierten. Sie weiß: Einige Außenstehende wird es nicht überraschen, dass hier, im entfernten Bremer Norden, laut ersten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ein junger Syrer Opfer eines Konflikts mit Kurden geworden ist. Andererseits: Ihr Quartier kennt Ulrike Florian doch auch. Der tödliche Streit? "Das ist nicht Lüssum."

Aber was ist Lüssum? Wofür steht der gewaltsame Tod eines syrischen Jungen, der nach der Flucht mit seiner Familie hier eine neue Heimat gefunden hatte?

Lüssum mit der Siedlung Lüssumer Heide liegt im nördlichsten Bremer Stadtteil Blumenthal und gehört zu dessen Ortsteil Lüssum-Bockhorn mit etwa 12 000 Einwohnern auf fünfeinhalb Quadratkilometern Fläche. Die Lüssumer Heide gilt als sozialer Brennpunkt oder "Stadtteil mit Entwicklungsbedarf", wie Stadtentwickler es heutzutage etwas freundlicher ausdrücken. Wohnraum ist hier relativ billig und war bis vor wenigen Jahren noch reichlich vorhanden. Deshalb leben viele Arbeitslose hier, viele Opfer der Altersarmut, viele Witwen, viele geflüchtete Familien. Viele Zugewanderte sind hier seit Jahrzehnten sesshaft. Lüssum ist ein buntes Quartier, die meisten Bewohner gehören einer Minderheit an. Kulturelle Gegensätze prallen aufeinander. Das birgt Konflikte, und weil viele Lüssumer arm sind, haben sie existenziellere Probleme als die Leute in den reicheren Gegenden von Blumenthal.

"Das ist der schönste Brennpunkt der Welt"

Aber gerade das macht die Lüssumer Heide zu einer Zentrale der Integration. Es gibt viele solcher Siedlungen in den deutschen Großstädten, vor allem dort sichert der Staat mit Einrichtungen, Kirchen, freiwilligen Helfern und mit den Bewohnern selbst seinen sozialen Frieden. Wer an dieser Arbeit beteiligt ist, ist stolz darauf, weil der Alltag an diesen Orten tatsächlich geprägt ist von internationaler Nachbarschaftshilfe zur Selbsthilfe, von Eingliederung und Teilhabe. Die Lüssumer Heide ist zudem eine Siedlung mit viel Grün zwischen den Wohnblocks. Sie profitiert vom Programm "Wohnen in Nachbarschaft" (WiN) des Landes Bremen. Und das Quartierzentrum "Haus der Zukunft" ist nicht nur eine Begegnungs- und Fortbildungsstätte für Lüssumer aller Generationen, Religionen und Kulturen. Sondern auch ein Gebäudekomplex aus Holz und Glas mit preisgekrönter Architektur. "Das ist der schönste Brennpunkt der Welt", sagt die Pastorin Florian, "wir würden es gar nicht als Brennpunkt wahrnehmen."

Um so härter trifft sie und die anderen Integrationshelfer der Tod von Odai K. Man weiß noch nicht sehr viel über das genaue Geschehen an Silvester. Die Polizei hielt sich von Anfang an bedeckt. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft Bremen zwei Tatverdächtige in Untersuchungshaft nehmen lassen wegen des Vorwurfs des gemeinschaftlichen Totschlags, einen 35-Jährigen und einen 24-Jährigen. Beide sind türkische Staatsbürger und sollen kurdischer Herkunft sein. Odai K. soll vor ihnen weggelaufen sein und sich in den Partyraum des Lokals geflüchtet haben, in dem die Täter ihn stellten und dann so schwer misshandelten, dass er später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag.

Die Stimmung muss aggressiv gewesen sein zwischen den Häuserblocks an Silvester: Qualm und Knallerei. Menschen bewarfen sich gegenseitig mit Feuerwerkskörpern, angeblich ziellos, aber irgendwann muss die Situation so eskaliert sein, dass eine Gruppe von Kurden den Syrer Odai K. jagte. Und mancher fragt sich: Hat sich bei der Böllerei ein Krieg entladen, den einzelne Lüssumer sonst nur im Kopf führen?

"Es ist wie im Krieg"

Für Ulrike Florian passt dieser Gedanke nicht zum Lüssumer Alltag. Sie sitzt im Kindergarten der evangelischen Gemeinde mit Jutta Wedemeyer, der Leiterin des Hauses. 138 Kinder werden hier betreut, auch die Kinder der Lüssumer Jesiden-Familien. "Wir kennen im Grunde alle kurdischen Familien", sagt Jutta Wedemeyer, "sie sind komplett integriert durch die Kinder." Aus ihrer Sicht bringen sich die Kurden aktiv ein in die Nachbarschaftshilfe und passen ihre Vorstellungen den örtlichen Gegebenheiten an. "Wir werden als evangelischer Kindergarten und Kirche sehr akzeptiert", sagt Ulrike Florian.

"Kurden-Power macht Türken sauer", hat jemand an die Wand geschmiert

Politische oder sonstige Konflikte sind tabu in der Einrichtung. "Wir haben eine klare Haltung", sagt Jutta Wedemeyer, "alle Kinder sind gleich." Wenn doch mal ein Kind von zu Hause die Meinung mitbringt, es dürfe mit einem Kind anderer Herkunft nicht spielen, gehen die Erzieherinnen sofort darauf ein. Ulrike Florian und Jutta Wedemeyer arbeiten im Grunde jeden Tag daran, jeden Graben in der Lüssumer Gesellschaft sofort zuzuschütten, sobald er sich auftut. Trotzdem hat es die Schlägerei gegeben. "Man kann sich das nicht erklären", sagt Jutta Wedemeyer. Sie fürchtet die Folgen des Falles. Kann eine fatale Schlägerei die jahrzehntelange Nachbarschaftshilfe infrage stellen? "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Täterfamilien kennen, ist groß", sagt Wedemeyer traurig.

Odai K.s Tod ist wie eine unverdiente Strafe über die Lüssumer Heide gekommen, er verunsichert und verwirrt. Auch Blumenthals Ortsamtsleiter Peter Nowack empfindet den Fall als Rückschlag. Blumenthal ist gezeichnet von der Pleite der Vulkan-Werft 1996 und der Wollkämmerei 2009. Aber es gibt positive Signale für eine Zukunft mit mehr Gewerbe und neuen Wohngebieten. Die Flüchtlingslage? Fand Nowack "insgesamt undramatisch".

"Eigentlich sind wir auf einem richtig guten Weg", sagt er, "ich habe die Befürchtung, dass die Silvesternacht alles kaputt macht." Und dann klagt er über die geheimen Kräfte im Inneren der Großsiedlungen, über kriminelle Familienbanden unterschiedlicher Herkunft, die längst so verwachsen sind mit der deutschen Gesellschaft, dass sie schwer zu greifen sind. "Wir haben in Blumenthal 38 690 Einwohner, von denen uns 100 Sorgen bereiten", sagt Nowack. Eine verschwindende Minderheit kann mit ein paar Hieben das soziales Gefüge stören. "Das ist keine Situation, die allein für die Lüssumer Heide oder Bremen steht. Das hätte in jeder deutschen Großstadt stattfinden können."

In manchen Köpfen wird wohl nie Frieden sein, das kann man in Lüssum von den Fassaden ablesen. "Selbsthilfe Fahrradwerkstatt" steht in bunten Buchstaben an einer Wand, darunter ist eine freundliche Malerei mit lächelnden Tieren. Aber dazu hat jemand geschmiert: "Kurden-Power macht Türken sauer." Gegen diese schlummernde Aggression ist auch die beste Sozialarbeit machtlos, und im Silvester-Rauch ist sie dann ausgebrochen. Ulrike Florian war nicht in Lüssum an Silvester, aber ihr Sohn war dort . Er hat sie angerufen. "Es ist wie im Krieg", sagte er in den Lärm der Böller hinein und ahnte nicht, wie viel Wahrheit in seiner arglosen Beschreibung lag.

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