Süddeutsche Zeitung

Obdachlosigkeit in Berlin:"Die Menschen sind in einem verheerenden Zustand"

Obdachlose in Berlin hausen in Elendscamps, nun soll eine stadtweite Strategie helfen. Ortrud Wohlwend von der Stadtmission erklärt im "Interview am Morgen", was sich auf der Straße verändert hat.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Minderjährige Flüchtlinge, die sich prostituieren, Obdachlosen-Camps, vor denen sich Spaziergänger fürchten - in Berlin leben immer mehr Menschen auf der Straße. Damit wachsen die Probleme, die zuständigen Bezirke sind überfordert. Nun will der Senat eine berlinweite Strategie gegen Obdachlosigkeit entwerfen. An diesem Mittwoch treffen sich zum Auftakt Politiker und Verwaltungsangestellte mit Hilfsorgnisationen und Wohlfahrtsverbänden. Auch Vertreter der Botschaften der Länder des östlichen Europas sind eingeladen. Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission erklärt, was die größten Probleme sind.

SZ: Frau Wohlwend, wie hat sich die Obdachlosigkeit in Berlin in den vergangenen Jahren verändert?

Wohlwend: Die Zahlen steigen und es gibt viel zu wenige Hilfsangebote. Wegen der Reisefreiheit in Europa leben immer mehr Obdachlose aus Osteuropa in Berlin. Sie sind inzwischen in unseren Notunterkünften in der Mehrheit. Viele polnische Staatsbürger kommen etwa mit großen Erwartungen hierher. Sie wollen einen Job finden, die Familie zu Hause ernähren. Aber dann scheitern sie. Andere waren schon in ihrer Heimat wohnungslos und erhoffen sich in Berlin bessere Hilfe.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Wie helfen Sie diesen Menschen?

Die Hilfe ist schon rechtlich schwieriger als bei Deutschen. Jedem deutschen Staatsbürger steht eine Wohnung zu. Wohnungslose Europäer, die noch nie in Deutschland gearbeitet haben, haben keinen Anspruch auf Unterstützung. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass Menschen vor unserer Tür verelenden. Ganz egal, welche Staatsbürgerschaft sie haben. Weil die meisten Obdachlosen in Berlin inzwischen aus Polen kommen, stellen wir schon seit Jahren Mitarbeiter ein, die polnisch sprechen.

Was hat sich auf der Straße sonst verändert?

Wir haben inzwischen mehr Frauen in den Notunterkünften. Früher waren vielleicht fünf von 100 Obdachlosen dort Frauen, heute sind es 25 oder 30. Lange hieß es: Männer sind viel stärker gefährdet, obdachlos zu werden, weil sie sich bei finanziellen oder psychischen Problemen seltener Hilfe holen als Frauen. Jetzt scheint sich das zu verändern. Viele der Frauen haben schlimmste Gewalterfahrungen hinter sich, sind alkohol- oder drogenabhängig.

Wir sehen auch viel mehr Obdachlose im Rollstuhl. Die Menschen sind in einem verheerenden Zustand, das können Sie sich nicht vorstellen. Zum Beispiel gibt es so gut wie keine barrierefreien kostenlosen Toiletten - und ein Rollstuhlfahrer kann sich ja nicht einfach an einen Baum stellen. Viele sind auch seelisch stark beeinträchtigt. Wir versorgen sie, brauchen dafür aber mindestens zwei Mitarbeiter.

Warum ist es so schwer, die Menschen unterzubringen?

Ein großes Problem ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Es gibt in Berlin fast keine günstigen Wohnungen mehr. Da hat der Senat unserer Meinung nach in den vergangenen Jahrzehnten eine verantwortungslose Politik betrieben. Es gibt in Berlin Übergangsheime für Obdachlose, in denen sie wieder ins normale Leben begleitet werden. Doch weil sie schlicht keine Wohnung finden, wird aus der Übergangslösung ein Dauerzustand.

Was erhoffen Sie sich von einer berlinweiten Strategie gegen Obdachlosigkeit?

Es ist überfällig, dass es eine stadtweite Strategie geben soll. Es ist nicht sinnvoll, dass jeder Bezirk sich selbst überlegt, welche Hilfen er Obdachlosen anbietet. Auch die verschiedenen zuständigen Senatsverwaltungen müssen sich vernetzen.

Sinnvoll wäre auch eine Kooperation mit den Wohnungsbaugesellschaften und den Genossenschaften, um an günstigen Wohnraum für wohnungslose Menschen zu kommen. Außerdem muss es dringend ein Abkommen mit den osteuropäischen Staaten geben, aus denen die Mehrzahl der Obdachlosen kommt. Es kann doch nicht sein, dass Polen zum Beispiel nicht mehr für die eigenen Leute sorgt, sobald sie in Deutschland in Not sind.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Für uns wäre es wichtig, dass Politik und Verwaltung Hilfeangebote einfacher für Bürger und Betroffene gestaltet. Die Obdachlosenzahlen steigen, es bilden sich die reinsten Elendscamps. Die Menschen brauchen intensive medizinische Betreuung und Einzelfallhilfe, gerade in den vermeintlich aussichtlosen Fällen.

Auch jenseits der Berliner Politik würde ich mir einen vollkommen anderen Ansatz im Umgang mit Obdachlosen wünschen. In Dänemark gibt es ein Konzept namens "housing first". Die Menschen bekommen erst einmal eine Wohnung. Und dann kommt ein Sozialarbeiter und hilft mit den Anträgen, den Papieren, der Ausbildung und den Schulden. In Deutschland müssen Hilfebedürftige unheimlich viele Anträge ausfüllen, zum Amt gehen. Sie fühlen sich als Bittsteller - und nicht als Menschen, die ein Recht auf Hilfe haben. Viele stranden dann und landen auf der Straße.

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