NRW:Wutausbrüche im Gefängnis

NRW: Voll belegt ist der geschlossene Trakt in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld Brackwede. Im Hintergrund sind Gebäude zu sehen, die nicht zur JVA gehören.

Voll belegt ist der geschlossene Trakt in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld Brackwede. Im Hintergrund sind Gebäude zu sehen, die nicht zur JVA gehören.

(Foto: Roberto Pfeil/AP)

Seit Silvester fasst die Justiz junge Straßendiebe und Drogendealer aus Nordafrika härter an. Die Verdächtigen drehen in den übervollen Gefängnissen durch.

Von Kristiana Ludwig, Bielefeld

Weiße Wände, eine Matratze auf Beton, ein Abort. Kameras. In den Siebzigerjahren schauten Justizvollzugsbeamte durch ein Deckenfenster herein. Heute zeigen Monitore, wie sich Gefangene in diesem Raum im Bielefelder Gefängnis verhalten: Nackt bis auf ein papierdünnes Hemd sollen sie sich in dem Quader beruhigen.

Im Männertrakt gibt es fünf solcher Beobachtungszellen. Hier werden Häftlinge eingesperrt, die besonders aggressiv sind oder die sich selbst verletzen könnten. Die Räume sind das allerletzte Mittel, wenn gefangene Menschen die Nerven verlieren - eigentlich. Doch seit einigen Monaten, sagt Anstaltsleiter Uwe Nelle-Cornelsen, sind sie ständig belegt.

Strenger Umgang mit Kleinkriminellen aus dem Maghreb

Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen Monaten viel über Sicherheit diskutiert. Nachdem in Köln Frauen wohl von mehrheitlich nordafrikanischen Männergruppen überfallen wurden, hat die rot-grüne Landesregierung ein Sicherheitspaket geschnürt.

Zusätzliche Staatsanwälte und Polizisten sollen eingestellt werden, besonders Kleinkriminelle stehen im Fokus: Junge Straßendiebe und Drogendealer aus den Maghreb-Staaten, die oft schon in ihren Heimatländern auf der Straße lebten und in Deutschland immer neue Namen erfinden, um unterzutauchen und bleiben zu können.

Den eigenen Hals aufgeschnitten

Auf dem Bildschirm von Anstaltsleiter Nelle-Cornelsen erscheint das Foto eines solchen jungen Mannes mit zwei Identitäten. Es ist das Röntgenbild seines Schädels. Arabisch spricht er, so viel weiß man, und dann das, was diese Aufnahme zeigt. Tief ins Innere seiner Mundhöhle hat der Mann eine Rasierklinge gedrückt. Gleich nachdem er sich, vor den Kameras einer Beobachtungszelle, den Hals aufgeschnitten hat.

Ein Akt von Gewalt gegen den eigenen Körper, den er in dieser Form selten erlebt hat, sagt Nelle-Cornelsen. War der Gefangene verzweifelt? Tat er es im Wahn? Eine Diagnose gibt es nicht.

Richter ordnen öfter Untersuchungshaft an

In den Gefängnissen in Nordrhein-Westfalen landen zur Zeit viele Jugendliche und junge Erwachsene aus Nordafrika. Seit Silvester, stellt der Bund der Strafvollzugsbediensteten fest, ordnen Richter bei Verdächtigen, die in einem Asylbewerberheim gemeldet sind, wesentlich öfter Untersuchungshaft an. In den Großstädten des Landes gibt es oft nur ein einziges Konzept gegen das Phänomen der wurzellosen Kriminellen: Razzien und Festnahmen.

Doch in Haft, das zeigt eine Umfrage des Justizministeriums, leiden gerade diese jungen Männer besonders. Das größte Problem seien Verständigungsschwierigkeiten, heißt es aus den Gefängnissen. "Während früher nordafrikanische Gefangene noch der französischen Sprache halbwegs mächtig waren", könnten sie heute bloß noch Arabisch, so die Ergebnisse der Umfrage. Viele Anstalten beobachteten "Verhaltensprobleme" und auch Respektlosigkeit gegenüber Beamten.

Verhaltensprobleme, das sind in der Anstalt im rheinischen Kleve zum Beispiel Wutausbrüche. Häftlinge zertrümmern Stühle und Betten in ihren Zellen. In den schmalen Hafträumen schlagen sie um sich. In Bielefeld öffnet ein junger Mann meist am Nachmittag sein Fenster. Er schreit dann hinaus in den Hof und schlägt gegen den Rahmen, wieder und wieder. Eine Stunde warten die Beamten mittlerweile ab und hoffen, dass er sich beruhigt. Dann schleppen sie ihn in eine Beobachtungszelle.

"Nicht nur die Seele ist zerstört"

Für den Psychiater Carl-Ernst von Schönfeld, der die Bielefelder Vollzugsanstalt betreut, ist so ein Verhalten zwar nicht ungewöhnlich. Ein Großteil der deutschen Inhaftierten leide unter psychischen Erkrankungen oder Drogensucht, sagt er: "Neu ist, wie wenig wir von der Situation verstehen."

Ein Dolmetscher helfe dabei nur bedingt. Die jungen Nordafrikaner hätten meist keine Familie, die sie unterstützen könnte. Laut Kölner Polizei lebe diese Gruppe schon lange auf den Straßen Europas, viele nähmen Drogen, um durchzuhalten. "Nicht nur die Seele des Einzelnen ist zerstört, sondern das ganze Sozialgefüge ist auseinandergebrochen", sagt von Schönfeld.

Hilflosigkeit führt zu katastrophalem Verhalten

Im Gefängnis sei dann oft "Hilflosigkeit der Hintergrund für so ein katastrophales Verhalten". Die Männer in Beobachtungszellen zu sperren, beruhige sie allerdings nur in Ausnahmefällen, sagt der Psychiater. Sie benötigten vielmehr Hilfsangebote, die ohne Sprache funktionieren.

Auch Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) hat das erkannt. Die Berichte aus den Gefängnissen machten deutlich, dass "eine einheitliche, gemeinsame Vorgehensweise entwickelt werden muss", sagt sein Sprecher: "Die pädagogischen Mittel des Jugendvollzugs müssen beginnend bei erzieherischen Gesprächen bis hin zu disziplinarischen Maßnahmen mit Augenmaß, aber auch konsequent angewendet werden." Einige Haftanstalten hätten zudem bereits Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund eingestellt.

Die Anstalt in Bielefeld gehört nicht dazu. Hier sorgt sich Leiter Uwe Nelle-Cornelsen eher, dass er die schönsten Konzepte für junge Straftäter in seiner Anstalt gar nicht umsetzen könnte. Ihm fehlt schlicht der Platz. Der geschlossene Trakt ist voll belegt, an diesem Tag zeigt der Zähler auf 100,74 Prozent. Gemeinschaftsräume, in denen sonst Freizeit- und Therapieangebote stattfanden, baut er nach und nach zu Hafträumen um.

Im vergangenen Jahr hatte Justizminister Kutschaty drei Gefängnisse in Nordrhein-Westfalen geschlossen. Damals waren die Gefangenenzahlen zurückgegangen.

Gefängnisse sind überfüllt

Doch heute hat sich nicht nur dieser Trend gedreht. Das Justizministerium saniert zur Zeit Anstalten, Häftlinge werden umquartiert. Die geschlossenen Häuser für Erwachsene sind deshalb übervoll. Mitte März waren zwölf von 36 Haftanstalten in Nordrhein-Westfalen zu mehr als 100 Prozent belegt. Das zeigt eine interne Auswertung des Justizministeriums, die der SZ vorliegt.

Auf Anfrage heißt es von Minister Kutschaty: "Wer einen Haftplatz braucht, der bekommt auch einen." Der rechtspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Jens Kamieth, nennt die Situation "verheerend".

Der Mörder Mirko S. hat in Bielefeld seinen Haftraum. Seit neun Jahren sitzt er hier. Er ist ein großer Kerl, den meisten Leuten schaut er auf den Kopf. Seine Zelle hat keine zehn Quadratmeter. Die Pritsche ist klappbar, eine schwarze Toilette ragt in den Raum.

Seit der Knast voll ist, verbringt er sehr viel Zeit hier drin. Draußen gibt es ständig Alarm. Beamte eilen dann durch die Gänge, um jemanden zu Boden zu ringen. Für alle anderen Häftlinge heißt das: Tür zu.

Häftling Mirco S.: "Es brodelt"

"Man wird nur noch weggeschlossen", rufen die Leute abends aus ihren Fenstern. Auch Sport fällt oft aus, den Billardraum gibt es nicht mehr. "Die Stimmung ist gereizt", sagt Mirko S., "Es brodelt".

Doch die Kapazitäten für eine bessere Betreuung gibt es nicht. Gerade für Täter, die Monate statt Jahre sitzen, bedeutet Gefängnis jetzt Einzelzelle. 23 Stunden am Tag.

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