Süddeutsche Zeitung

Notre-Dame:Die einen ermitteln, die anderen spekulieren

Einen Monat nach dem Feuer in Notre-Dame ist die Brandursache noch immer nicht geklärt. Hobby-Forensiker entwickeln deshalb ihre ganz eigenen Theorien.

Von Nadia Pantel, Paris

Gut möglich, dass die Kathedrale in all den Jahrhunderten, die sie nun schon auf ihrer Insel im Zentrum der Stadt steht, nie so sehr ihre Ruhe hatte wie jetzt. Genau einen Monat nach dem Brand, der sie beinah zerstört hätte, wurde um Notre-Dame eine Schutzzone errichtet, die es mitten in Paris ganz still werden lässt. Wo nicht die Seine die Menschen davon abhält, sich der Kirche zu nähern, tun es Polizeisperren. Die Cafés und Souvenirläden, die bis Mitte April noch von der Nähe zur Kirche profitierten, sind ins Abseits geraten. 80 Prozent weniger Einnahmen haben sie, klagt der Verbund aus 50 Geschäften, die zum Quartier Notre-Dame gehören.

Doch so still es an der Kathedrale ist, so laut sind die Diskussionen, die nun seit vier Wochen geführt werden. Unklar ist, ob es auf eine der zentralen Fragen jemals eine Antwort geben wird: Wie konnte es zu dem Brand kommen? Die Ermittlungen der Pariser Polizei dauern an. Nach wie vor lautet die offizielle Stellungnahme: Ein Unfall ist die wahrscheinlichste Brandursache. Aktuell sind Experten damit beschäftigt, genau zu rekonstruieren, wie sich das Feuer ausbreitete. Frühestens in einem Monat sei mit ersten Ergebnissen der Untersuchungen zu rechnen, heißt es von der Staatsanwaltschaft, die ein Verfahren eröffnet hat wegen "unfreiwilliger Zerstörung durch Feuer".

Doch viele Franzosen versuchen sich lieber selbst als Forscher, als auf die Schlüsse der Experten zu warten. Im Internet werden Videos geteilt, auf denen erfolglos an Eichenstämmen herumgezündelt wird. Damit soll bewiesen werden, dass die These eines Unfalls nicht haltbar ist. Denn, so die Logik der Hobby-Forensiker, wenn es so schwer ist, eine Eiche in Brand zu setzen, wie kann dann innerhalb weniger Stunden der gesamte Eichendachstuhl von Notre-Dame Feuer fangen?

Experten wie Benjamin Truchot vom Nationalen Institut für Industrie und Risiken erklären, dass es im Fall der Kathedrale entscheidend sein dürfte, dass der Brand im Inneren des Dachstuhls ausgebrochen sein dürfte, also vor Wind geschützt. Außerdem habe die Geschichte immer wieder gezeigt, dass auch massive Strukturen wie ein Kirchenschiff ohne Mühe Feuer fangen können, so zum Beispiel die Kathedrale von Chartres 1836. Verschiedene chemische Analysen wurden im Inneren von Notre-Dame vorgenommen, um festzustellen, ob sich Spuren von Brandbeschleuniger finden lassen. Ergebnis: negativ.

Die möglichen Ursachen eines Unfalls hat bisher Le Canard enchaîné am ausführlichsten aufgeführt, die Zeitung schreibt von "einer Serie menschlichen Versagens". So sei die Feuerwehr erst gerufen worden, nachdem schon 35 Minuten zuvor das Warnsignal eines Rauchmelders losgegangen war. Das Sicherheitspersonal habe das Anschlagen des Rauchmelders zunächst als falschen Alarm eingestuft. Am Sicherheitspersonal war offensichtlich gespart worden. Eigentlich gibt es einen Brandschutzplan, der vorsieht, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit zwei Wächter in der Kathedrale patrouillieren, diese offizielle Vorgabe war laut Canard Enchaîné stillschweigend zusammengestrichen worden. Ein einzelner Mann war jeweils verantwortlich, und das auch nur von acht Uhr morgens bis 23 Uhr abends.

Kurzschluss wahrscheinlich

Nicht regelkonform sollen sich auch die Unternehmen verhalten haben, die für die Renovierungsarbeiten zuständig waren, die ausgeführt wurden, als das Feuer ausbrach. Um 17.20 Uhr verließen die Arbeiter am 15. April die Baustelle auf dem Dach der Kathedrale, eine Stunde später wurde der Brand gemeldet. Zwischen Schutt und Asche wurden auf dem Boden des Kirchenschiffs nach dem Brand Zigarettenstummel gefunden, trotz strikten Rauchverbots. Die Bauunternehmer haben zugegeben, dass ihre Angestellten sich an das Verbot nicht gehalten haben.

Experten und Ermittler halten es allerdings für wahrscheinlicher, dass ein Kurzschluss das Feuer auslöste. Die möglichen Ursachen sind vielfältig. In dem Dachreiter, der während des Brandes einstürzte, waren elektrische Kabel verlegt, um die Glocken läuten zu lassen. Zudem arbeiteten die Bauarbeiter mit elektrisch betriebenen Lastenaufzügen.

Doch nicht nur die Frage nach dem Warum, auch die Frage nach dem Wie weiter sorgt für Debatten. Am Freitag hat die Nationalversammlung nach 13 Stunden Debatte ein Gesetz abgesegnet, das helfen soll, die Renovierungsarbeiten an der Kathedrale zu beschleunigen. Schließlich hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verkündet, Notre-Dame solle in fünf Jahren wieder aufgebaut sein. Um dieses hohe Tempo zu schaffen, sieht das neue Gesetz nun vor, dass beim Wiederaufbau von Notre-Dame gegen Regeln des Denkmal- und Umweltschutzes verstoßen werden darf. Ein Umstand, über den sich sogar Frankreichs bekanntester Denkmalpfleger Stéphane Bern aufregt, der eigentlich als treuer Unterstützer Macrons gilt.

Frühestens Ende des Sommers könnte der Wiederaufbau beginnen. Aktuell sind gut 60 Architekten, Zimmerleute, Maurer, Steinmetze, Glasbauer und Dachdecker damit beschäftigt, Teile der Kathedrale abzusichern, um sie vorm Einsturz zu bewahren. Über das Kirchenschiff wurde eine riesige Plane gelegt, die das Innere vor Regen schützt. Die Seitengiebel und das obere Gewölbe wurden von Feuer und Löschwasser so stark beschädigt, dass sie gestützt werden müssen.

Charlotte Huber gehört zu den Architekten, die aktuell die Bauarbeiten leiten. In einem Interview mit Le Croix gibt sie sich gelassen, was die Vorgabe von Macron betrifft: "Unser Ziel ist es, dass in fünf Jahren Notre-Dame seine Silhouette wiedergefunden hat, also ein Dach, und dass man die Kirche besichtigen kann." Dass die Renovierungsarbeiten dann abgeschlossen sind, bedeutet das nicht. "Eine Kathedrale ist ohnehin eine dauerhafte Baustelle."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4446402
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.