Notizen vom Kindermord-Prozess:Ein Blick in den Abgrund

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"Noch nie habe ich in einem Gerichtssaal einen so deprimierenden, albtraumhaften Tag erlebt wie diesen." Ein SZ-Journalist berichtet vom Prozess gegen die Mörder von Tom und Sonja.

Aus der Anklageschrift gegen Markus Wirtz (28) und Markus Lewendel (33), beide wohnhaft in Eschweiler: Die Angeklagten haben am 30. März 2003 gemeinschaftlich die Geschwister Tom und Sonja S. entführt.

Um ungestört sexuelle Handlungen an dem neunjährigen Mädchen vornehmen zu können, entschlossen sie sich, den elfjährigen Tom zu töten. Markus Wirtz fuhr mit dem gefesselten Jungen zu einem abgelegenen Parkplatz und drückte ihm dort den Hals zu, bis er tot war.

In der Nacht und während des nächsten Tages ließen sowohl Lewendel wie Wirtz von dem Mädchen sexuelle Handlungen an sich vornehmen. Aus Furcht vor Entdeckung entschlossen sich beide, auch Sonja zu töten. In einem etwa 50 Kilometer entfernten Waldstück zog Lewendel dem Mädchen eine Plastiktüte über den Kopf und erdrosselte es mit einer Paketschnur.

1. Tag: Wirtz

Noch nie habe ich in einem Gerichtssaal einen so deprimierenden, albtraumhaften Tag erlebt wie diesen. Markus Wirtz, 28, schildert den Ablauf der beiden Tage, an denen er und sein Kumpan Lewendel die Kinder Tom und Sonja ermordet haben.

Nein, "schildern" ist nicht das richtige Wort. Er entringt sich einzelne Worte, einzelne Sätze, er presst sie aus dem Mund, ächzend, stöhnend, manchmal schluchzend. Der Vorsitzende Richter der 1. Schwurgerichtskammer am Landgericht Aachen, Günther Nohl, ist ein ruhiger, beinahe väterlich wirkender Mann.

Aber wie er den Angeklagten Wirtz durch dieses Geständnis führt, durch jedes grausame Detail, das hat etwas quälend Unerbittliches. Wie ein Bauer, der einen widerspenstigen Ochsen mit eiserner Hand auf geradem Kurs hält. Wirtz dreht und windet sich, es nützt ihm nichts.

Er versucht, Lewendel, den fünf Jahr Älteren, als die treibende Kraft darzustellen, sich selbst als den Mitläufer,der ganz in seinen Gewaltfantasien gefangen war, aber bis zuletzt nicht daran glaubte, dass sie jetzt wirklich tun würden, was sie sich hundert Mal gemeinsam ausgemalt hatten. "Der Lewendel hat gesagt...", "Lewendel hat befohlen...", Lewendel hat keinen Widerspruch geduldet..." Die Szene, als die beiden mit den gefesselten Kindern hinter sich im Auto in der Tiefgarage ihrer Wohnanlage ankommen: Sie schleppen die neunjährige Sonja in Wirtz' Souterrainwohnung und fesseln sie mit Kabelbindern an das Bettgestell.

"Was ist mit Tom im Auto geschehen?", fragt Richter Nohl. "Lewendel hat ihn in den Kofferraum gelegt." "Lewendel sagt, der Wirtz hat ihn geknebelt?" "Ich weiß es nicht." "Wer gab den Anstoß zur Tötung des Jungen?" "Der Lewendel hat gesagt, der Junge muss entsorgt werden." "Nicht Sie?" "Nein."

Nohl greift zum Protokoll der polizeilichen Vernehmung des Markus Wirtz. Er zitiert: "Tom musste weg, weil wir vorhatten, uns von Sonja befriedigen zu lassen." Wirtz schweigt. Noch ein Vorhalt aus dem Protokoll: "Wir hatten ausgemacht, den Tom umzubringen." Wieder Schweigen. Dann ein lang gezogenes, gepresstes "Jaaaa."

Am Abend, beim Essen, und später im Hotelbett, lässt sich das, was ich an diesem Tag gehört habe, nicht aus dem Kopf vertreiben. Sich die Angst und die Verlassenheit dieser beiden Kinder vorzustellen, die mit gefesselten Händen und verklebten Gesichtern herumgezerrt und -geschleppt und schließlich gnadenlos erwürgt wurden, ist schier unerträglich.

Und es kommen Zweifel, ob man eine Geschichte wie diese überhaupt schreiben sollte. Wem nützt es? Und könnte nicht sogar irgendein kranker Kopf, von denen es genug im Lande gibt, zur Nachahmung angeregt werden? Aber andererseits: Wenn solche Dinge geschehen, dann hat es keinen Zweck, die Augen davor zu verschließen. Sind wir nicht alle gemeinsam verantwortlich für die Realität, in der wir leben? Und Wirtz und Lewendel sind keine Außerirdischen. Sie sind Teil unserer Realität.

2. Tag: Lewendel

Markus Lewendel hat am ersten Prozesstag durch seinen Verteidiger erklären lassen, er werde sich vorerst nicht zur Sache äußern, weil durch die Boulevardpresse eine "Stimmung des Hasses" erzeugt worden sei, in der jede Einlassung "absichtsvoll missverstanden" würde. Jetzt, nachdem er die Aussage seines Freundes Wirtz gehört hat, will er doch auch etwas sagen. Lewendel ist von seinem Auftreten her das genaue Gegenteil von Wirtz. Da ist kein Anflug von Weinerlichkeit. Er antwortet knapp und klar, mit kühlem Gleichmut. Ihn scheint das Ganze hier absolut kalt zu lassen. Manchmal bläst er gelangweilt die Backen auf. Manchmal zucken seine Mundwinkel, als müsse er sich Mühe geben, ein stolzes Lächeln zu unterdrücken.

Was an der Aussage Lewendels am meisten beeindruckt, ist die Bereitwilligkeit, mit der er Details einräumt, die ihn selbst extrem belasten. Schon in seiner ersten polizeilichen Vernehmung, unmittelbar nach der Festnahme, hat er dem Vernehmungsbeamten erzählt, dass sich in dem Altkleidercontainer vor seinem Wohnhaus eine Diskette befinde, auf der er den Ablauf der Entführung und Ermordung der beiden Kinder festgehalten habe.

Niemand hätte die Diskette je gefunden ohne Lewendels Hinweis. Die Sprache, der sich Lewendel in diesem "Protokoll" bedient, sei so, "dass einem das Blut in den Adern gefriert", sagt sein Verteidiger Wolfram Strauch. In derselben Vernehmung hat Lewendel geschildert, wie er Sonja eine Plastiktüte über den Kopf zog, wie das Kind klagte, es bekomme keine Luft mehr, und wie er antwortete: "Das ist ja auch der Sinn der Sache". Aus freien Stücken erzählte er das; niemand wäre auf den Gedanken gekommen, ihn so etwas zu fragen.

Jetzt, im Prozess, wiederholt Markus Lewendel diese Aussage. Richter Nohl mustert ihn einen Augenblick lang schweigend. "Das ist ja ziemlich starker Tobak", sagt er dann. "Ja", sagt Lewendel. "Und dann haben Sie die Schnur zugezogen?" "Ja." "Warum hat das Zuziehen so lange gedauert?" Nur ein ganz kurzes Zögern, dann die Antwort: "Ich habe es absichtlich getan. Ich wollte Rache nehmen, weil ich früher als Hausmeister oft von Kindern geärgert worden bin." "Wie war Ihr Zustand?" "Ich war locker drauf." Später, nach einer Verhandlungspause, meldet sich Rechtsanwalt Strauch zu Wort: "Mein Mandant will noch eine Begebenheit berichten. Das fällt ihm sehr schwer."

Aber Lewendel erweckt gar nicht den Eindruck, dass es ihm schwer fiele, als er nun berichtet, am Sonntag nach der Tat - also in einem Zeitabstand von fünf Tagen - hätten er und Wirtz verabredet, "dass wir das gleiche nochmal machen. Dass wir wieder ein Kind in unsere Gewalt bringen." Strauch erzählt später, er habe versucht, seinen Mandanten von dieser Aussage abzuhalten. Er habe ihm die Folgen vor Augen geführt. Aber Lewendel sei nicht zu bremsen gewesen. Staatsanwalt Albert Balke kann es kaum fassen. "Wollen Sie als Monster in die Kriminalgeschichte eingehen?", herrscht er Lewendel an.

Vielleicht ist es genau das. "Mal ganz groß rauskommen", das hat sich Lewendel immer gewünscht. Jetzt kommt er ganz groß raus.

3. bis 5. Tag: Zeugen

Im Mittelpunkt des Strafprozesses stehen die Täter. Die Opfer kommen nur am Rande vor. Aber es steht dem Gericht frei, das zu ändern. Richter Nohl hat darauf verzichtet, die Eltern von Tom und Sonja als Zeugen zu laden. Die Konfrontation mit diesen Tätern will er ihnen nicht zumuten. Aber er hat den Kriminalhauptkommissar (KHK) Norbert S. geladen, der während der Ermittlungen und auch danach den Kontakt zu den Eltern gehalten hat.

Zum ersten Gespräch nach dem Verschwinden der Kinder, berichtet S., "kam die Mutter mit einem Seelsorger. Während dieses Gesprächs wurde mir die Auffindung von Tom mitgeteilt. Sie konnte es zuerst nicht glauben, sie brach zusammen. Sie betonte immer wieder, Tom wäre nie mit einem Fremden mitgegangen. Sie erzählte so viel von Tom und Sonja, dass man dachte, man kennt die. Es war offenkundig, dass die Kinder der absolute Lebensmittelpunkt der Eltern waren." Am Abend dieses Tages, sagt der Beamte, sei die Mutter dann bereit gewesen, sich ein Foto des toten Jungen zeigen zu lassen. "Sie warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte: ,Das ist unser Baby'. "

Der Polizeibeamte Peter P. wird gehört; er führte die erste Vernehmung mit Markus Lewendel. "Ich spring mal knallhart rein", habe Lewendel zu Beginn der Vernehmung gesagt. An einigen Stellen zittert die Stimme des Zeugen so sehr, dass er nur mühsam weitersprechen kann. "So eine Vernehmung hat man ja nicht alle Tage", sagt Richter Nohl. Wie haben Sie das verarbeitet?" "Das ist nicht leicht", antwortet der Zeuge. "Ich verdränge das."

KHK Uwe B. hat Markus Wirtz vernommen. "Er sagte, ihm seien ,die Sicherungen durchgebrannt'", berichtet der Beamte. "Das erschien mir nicht nachvollziehbar. Die hatten doch schon lange vorher im Internet nach Polizeiutensilien gesucht, um die Kinder damit zu täuschen.Die haben es irgendwie geschafft, dass die Kinder bis zuletzt glaubten, es ginge Richtung Eltern. Das will mir heute noch nicht in den Kopf, dass man so gefühllos mit Kindern umgehen kann."

Dann kommt der Zeuge noch auf die Telefonate zu sprechen, die Wirtz führte, während er, mit dem gefesselten und geknebelten Tom im Kofferraum, unterwegs war, um den Jungen zu töten. "Da hat er seine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass er nicht, wie verabredet, noch vorbeikommt, um Essen abzuholen." Der Beamte ist noch heute fassungslos: "In einem solchen Moment, mit einem in Todesangst strampelnden Jungen im Kofferraum. Dass das zusammen in einen Kopf passt ..."

In fast alle Prozesse dieser Art gehe ich anfangs mit dem Gefühl der Ratlosigkeit, und das Gefühl verstärkt sich, wenn ich zum ersten Mal im Gerichtssaal dem Täter gegenüber sitze. Es steht ja keinem auf die Stirn geschrieben, dass er fähig ist, ein Kind zu überwältigen, gefangen zu halten, zu quälen, zu missbrauchen, zu töten. Alle diese scheinbar ganz normalen Männer mit ihren Allerweltsgesichtern, wie sie mir jeden Tag auf der Straße oder in der U-Bahn begegnen.

Aber wenn der Prozess dann beginnt, wenn ich mir die Geschichten anhöre, die Angeklagte und Zeugen erzählen, wenn sich langsam ein Bild des Menschen formt, der da sitzt, der einmal ein Kind war und ein Jugendlicher, ein Mensch mit Eltern und Geschwistern, Freunden, Arbeitskollegen, der glückliche und unglückliche Zeiten erlebt hat (meistens mehr unglückliche), Erfolge und Enttäuschungen (meistens mehr Enttäuschungen), dann weicht langsam die Ratlosigkeit einem zumindest rudimentären Verständnis. Ich kann mich in sehr viele Situationen einfühlen, in denen die Weichen gestellt wurden für den Weg ins Verbrechen. Im Prozess gegen Markus Wirtz und Markus Lewendel kann ich das nicht. Auch nach fünf Prozesstagen habe ich noch nicht den Schatten einer Ahnung, was diese Männer angetrieben hat.

6. Tag: Die Sachverständigen

Wirtz hat von seinen Ängsten in der Schule berichtet, er war immer der Kleinste, der Schmächtigste. Er ist überdurchschnittlich intelligent, und er fühlt sich chronisch zurückgesetzt, "immer wie blöd behandelt", sagt er, auch später, als er eigentlich ganz erfolgreich in seinem Berufsleben war. Immer sei da irgendeiner gewesen, der ihn "herumgeschubst" habe, zuerst der Vater, dann die Vorgesetzten in der Firma. "Diese Erlebnisse der Herabsetzung hat er mit Machtphantasien kompensiert", sagt der Psychiater Norbert Leygraf.

Und weil er zu schüchtern gewesen sei, um eine sexuelle Beziehung zu Frauen aufzunehmen, habe Wirtz von kleinen Mädchen phantasiert, die ihm ausgeliefert wären. Ob das denn nicht schon eine Sucht gewesen sei, fragt Wirtz' Verteidiger Gottfried Reims, dieser tägliche Konsum von Kinderpornos im Internet. "Nein, nein", sagt Leygraf, "nur weil er etwas regelmäßig macht, ist er noch nicht süchtig." Und Machtphantasien, die habe praktisch jeder von uns, mehr oder weniger. Und trotzdem erwürgen wir keine Kinder.

Wirtz hat ein Problem mit seinem Vater, Lewendel hat eins mit seiner Mutter. Bis zu seinem 28. Lebensjahr hat er bei ihr gewohnt, und als er dann endlich eine eigene Wohnung hatte, zog sie keine drei Monate später in das selbe Haus ein. Sie konnte ihn nicht loslassen, und er sie ebenso wenig. Sogar an dem Tag, an dem er Sonja in seiner Wohnung gefangen hielt, stattete er der Mutter einen kurzen Besuch ab, um seine Wäsche abzuholen.

Lewendel wurde von dem Berliner Gerichtspsychiater Hans-Ludwig Kröber begutachtet. Wochen, nachdem das Gutachten abgeschlossen war, ließ Lewendel den Psychiater bitten, ihn noch einmal aufzusuchen. Er wollte, berichtet Kröber, unbedingt noch einige Episoden aus seiner Kindheit berichten. Einmal habe ihn seine Mutter versehentlich mit kochendem Wasser übergossen und habe sich danach kaum um ihn gekümmert. Nur mit kaltem Wasser abgespült, keinen Arzt geholt.

Ein anderes Mal sei er unabsichtlich auf seinen Wellensittich getreten. Der Vogel war tot, und die Mutter habe ihn "einfach so" in den Mülleimer geworfen. "Eiskalt" sei sie gewesen, sie habe nichts gesagt, ihn nicht getröstet, gar nichts.

Als Hans-Ludwig Kröber diese Episode erzählt, muss Lewendel ganz heftig mit den Augen zwinkern und schlucken. Verteidiger Strauch beugt sich fürsorglich zu ihm. "Mein Mandant", erzählt er später auf dem Gerichtsflur, "war den Tränen nahe."

SZ vom 8.12.2003

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