Utøya:Keine Angst vor der Insel

Utøya

Wir holen uns Utøya zurück, hat die Parteijugend schon am Tag nach den Morden gerufen.

(Foto: dpa)

Vier Jahre nachdem Anders Breivik auf Utøya 69 Menschen umgebracht hat, veranstaltet die Jugend der norwegischen Arbeiterpartei dort wieder ihr Sommerlager - und rechnet mit mehr Teilnehmern denn je.

Von Silke Bigalke, Utøya

Der Weg vom Anlegesteg führt einen Hügel hinauf und über die Insel. Sie ist kleiner als erwartet. Manchmal zweigt ein Trampelpfad vom Hauptweg ab zum Wasser, der Tyrifjord-See ist nie weit weg. Unwillkürlich sucht man nach Möglichkeiten, sich zu verstecken. Doch die meisten Baumstämme sind nicht dick genug. Das Gebüsch ist nicht dicht genug. Das Gras nicht hoch genug. Die Pfade sind nicht breit genug, wenn Hunderte gleichzeitig fliehen.

564 Menschen waren auf der Insel, als der Rechtsextremist Anders Breivik angriff. Sein Anschlag galt dem Sommerlager auf Utøya, eine Institution in Norwegen. Jedes Jahr traf sich hier die Jugend der Arbeiterpartei, die AUF, um zusammenzuwachsen, Fußball zu spielen und Pläne zu schmieden. Nun kommen sie zurück, zum ersten Camp auf Utøya seit dem Anschlag 2011. Mehr als 1000 Teilnehmer haben sich angemeldet. Diesen Freitag beginnt das bisher größte Treffen auf der Insel.

Bevor es losgeht, führt Ragnhild Kaski Journalisten vor Ort herum. Die meisten von ihnen kommen nicht aus Norwegen, und Kaski hat alle Mühe, zu erklären, dass Utøya für sie nicht nur Flucht, Horror und Tod bedeutet. Sie war selbst auf der Insel, als 69 Menschen starben - und seither noch viele Male. Sie hat Häuser neu gestrichen, renoviert und aufgeräumt.

Wände samt Einschusslöcher werden konserviert

Kaski ist AUF-Generalsekretärin, sie organisiert das Sommerlager. Vor einem schlichten, blauen Holzhaus bleibt sie stehen: die Cafeteria. Es ist der einzige Ort auf Utøya, an dem es noch Spuren des Terrors gibt. Die Parteijugend wollte das Gebäude zuerst abreißen. Jetzt werden die Wände samt Einschusslöchern konserviert und von einem größeren, modernen Gebäude ummantelt. Ein Lernzentrum gegen Extremismus soll daraus werden.

Sachlich erläutert Kaski die Pläne. Sie verrät nicht, dass sie selbst in der Cafeteria war, als Breivik schoss. Damals war sie 21 Jahre alt und entkam. 13 andere starben in dem Gebäude. Wenn man sie danach fragt, beeilt sich Kaski zu erklären, dass es noch eine ganz andere Bedeutung für sie habe: Als sie 17 Jahre alt war, hat sie dort ihre erste Rede gehalten. "Daran muss ich mich auch erinnern können", sagt sie. Und jetzt gehe es eben darum, neuen AUF-Mitgliedern ebenso gute UtøyaErinnerungen zu ermöglichen. Geht das überhaupt?

Norwegian Workers Party (AUF) invites youth to Utoya Island camp

Das Sommerlager der Jugend der Arbeiterpartei AUF war eine Institution in Norwegen - bis 2011.

(Foto: Vegard Wivestad Groett/dpa)

Die einzige Fähre zur Insel ist die MS Thorbjørn. Sie hat auch Breivik damals übergesetzt. Die Fahrt dauert wenige Minuten. Das weiße Haus mit der roten Utøya-Aufschrift vor dem grünen Hügel rückt immer näher, ein Bild, das man aus dem Fernsehen kennt. Wie kann man hier an Land gehen, ohne an den 22. Juli 2011 zu denken? Wie können junge Menschen hier je wieder eine gute Zeit haben? Für die Nachwuchspolitiker lautet die Frage eher: Wie könnten sie nicht?

Utøya war für viele ein Symbol für Demokratie

"Utøya hat der Arbeiterjugend unglaublich viel bedeutet", sagt Mani Hussaini, AUF-Chef. Er steht im neuen Hauptgebäude, ein offener, heller Holzbau mit Konferenzraum, Küche und Speisesaal. Was er sagt, ist nicht einfach ein Spruch. Utøya war für viele ein Symbol für Demokratie, Offenheit und Gemeinschaft, lange bevor Breivik dort anlegte, bevor er überhaupt geboren wurde. Die Insel zum Friedhof zu erklären bedeutete, dass der Terrorist gewonnen hätte.

Wir holen uns Utøya zurück, hat die Parteijugend deswegen schon am Tag nach den Morden gerufen. Es muss schwer für sie gewesen sein, als plötzlich alle mitreden wollten, wo es doch um ihre Insel ging. Die Familien der Opfer brauchten einen Ort, um zu trauern. Viele wollten nicht, dass die AUF die Insel neu aufbaute und weiternutzte. Also haben sie gewartet, Pläne verschoben, mit Angehörigen gesprochen. Die große Anzahl der Teilnehmer soll nun zeigen, dass es nicht zu früh ist für ein neues Sommerlager, "dass wir unseren Kampf gewonnen haben", sagt Hussaini.

40 Kilometer entfernt sitzt Ingvild Stensrud in einem Café in der Osloer Innenstadt. Sie ist gerade vom Auslandssemester in Schottland zurück und beschäftigt mit Umzug und Sommerjob. Trotzdem kommt sie am Freitag und Samstag als Helferin ins Sommerlager, um darauf aufzupassen, dass niemand versehentlich sein Zelt abfackelt, dass alle genug Abstand zum Nachbarn halten. "Ich glaube, es ist besser für mich, wenn ich eine Aufgabe habe und die ganze Zeit beschäftigt bin", sagt sie.

Sie stellte sich tot

Es ist ihr zweites Mal auf der Insel, seit Breivik sie angeschossen, Bein und Arm getroffen hat. Wie viele andere hat sich Ingvild Stensrud in der Cafeteria versteckt, lag dort begraben unter Körpern und stellte sich tot. "Für mich ist es ganz natürlich, im Sommerlager zu sein, ich bin dabei, seit ich 13 bin", sagt die heute 20-Jährige. "Vielleicht finde ich für mich einen Abschluss darin, das Camp zu sehen und zu fühlen, dass die Dinge wieder normal laufen." Auf der Insel übernachten möchte sie aber nicht. Nachts sei es im Camp zu ruhig, da fehle die Ablenkung. Sie ist jedenfalls froh, dass die Insel nicht zum Museum geworden ist. Das Museum für den 22. Juli gibt es nun ebenfalls in Oslo, zwei Straßen weiter, im Regierungsviertel. In der Mitte eines kargen Raums liegen die zur Unkenntlichkeit geschmolzenen Reste des Wagens, den Breivik dort vor vier Jahren als Bombe benutzt hat. Drumherum, die Wände entlang, läuft eine Zeitleiste mit Bildern und Nachrichten. Sie zeigen minutengenau den Tathergang: Um 15.25 Uhr explodiert die Bombe in Oslo. Breivik entkommt mit einem anderen Wagen. Um 16.55 Uhr erreicht er die Fähre nach Utøya. Um 17.21 Uhr erschießt er die ersten Opfer. Zwischen 17.26 und 17.28 Uhr tötet er 13 in der Cafeteria. Die Besucher schieben sich an der Zeitleiste der Ausstellung entlang. Die ersten Pläne für das neue Utøya sahen ein Erinnern an den 22. Juli anfangs gar nicht vor. "Sie kamen zu früh und waren nicht ausgewogen genug", sagt heute auch Jørgen Frydnes, Projektmanager der Insel. Das Gewicht habe klar auf der Zukunft gelegen, die dunkle Seite der Geschichte wurde ausgeblendet. Jetzt hat sie ihren Platz hier auf der Insel gefunden, mit einer Gedenkstätte für die Opfer. Dort legt Ragnhild Kaski nun den letzten Stopp ihrer Inseltour ein. Neben dem Abhang zum Wasser schwebt ein breiter, silberner Ring über der Erde, aufgehängt an Drahtseilen in den Bäumen. Darauf stehen die Namen und das Alter der Opfer, das jüngste war 14 Jahre alt. Ob sie einige von ihnen gekannt habe, fragt ein Journalist. "Natürlich", sagt Kaski. "Ich war damals Teil der AUF, und sie waren es auch." Später erzählt sie, dass jüngere Camp-Teilnehmer ihr schreiben und Sorge haben, dass sie irgendetwas falsch machen bei ihrem ersten Ausflug nach Utøya. Sie antworte dann, dass sie nichts falsch machen könnten. Kaski schmunzelt. Die häufigere Frage an sie sei eigentlich eine andere: von Teilnehmern, die kein Zelt haben und noch einen Schlafplatz suchten.

Utøya: Mehr als 1000 Teilnehmer sollen zeigen, "dass wir unseren Kampf gewonnen haben", sagt Mani Hussaini, AUF-Chef.

Mehr als 1000 Teilnehmer sollen zeigen, "dass wir unseren Kampf gewonnen haben", sagt Mani Hussaini, AUF-Chef.

(Foto: Jon Olav Nesvold/AP)
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