NorwegenDie Gewalt hinter dem Medaillenspiegel

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Jakob Ingebrigtsen beim 1500-Meter-Finale der Hallen-WM in Nanjing.
Jakob Ingebrigtsen beim 1500-Meter-Finale der Hallen-WM in Nanjing. (Foto: Dylan Martinez/REUTERS)

Jakob Ingebrigtsen ist derzeit einer der besten Mittelstreckenläufer der Welt. Nun hat er gegen seinen Vater Gjert vor Gericht ausgesagt. Der wurde durch seine Kinder zur Trainerlegende. Die Vorwürfe gegen ihn sind schwer.

Von Alex Rühle

Der Ausnahmeathlet Jakob Ingebrigtsen ist alleine in diesem Jahr schon vier Weltrekorde gelaufen. Am vergangenen Samstag gewann er bei der Hallen-WM in Nanjing Gold über 3000 Meter, am Sonntag dann noch mal Gold über 1500 Meter, am Montag flog er heim ins südnorwegische Stavanger, um am Dienstag im Prozess gegen seinen eigenen Vater und langjährigen Trainer auszusagen: Gjert Ingebrigtsen soll ihn und seine jüngere Schwester über Jahre misshandelt haben, körperlich wie psychisch. Der beschuldigte Vater bestreitet alle Vorwürfe. Und das ganze Land schaut auf diesen Prozess, schließlich kennen viele Norweger diese Familie mittlerweile fast besser als die eigene Verwandtschaft.

Jakob Ingebrigtsen wurde im September 2000 als fünftes von sieben Geschwistern geboren. Vater Gjert, der eigentlich in einem Logistikunternehmen arbeitete, fing früh an, all seine Kinder zu trainieren, ohne selbst zuvor irgendwelche Erfahrungen als Leichtathlet oder Trainer gemacht zu haben. 2012 wurde Henrik, der Zweitgeborene, Europameister über 1500 Meter. 2016 gelang seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Filip dasselbe Kunststück. 2021 dann Olympiagold für Jakob, den Jüngsten der drei, der schon als Kind bei physiologischen Leistungstests Werte aufwies, wie man sie normalerweise bei deutlich älteren Athleten findet. 2018 wurde Gjert zu Norwegens Trainer des Jahres gekürt.

Es gibt eine Amazon-Serie über die drei Laufbrüder. Das norwegische Fernsehen drehte früher schon eine sechsteilige Serie über die Familie, eine Langzeitbeobachtung von 2016 bis 2021, deren Titel im Nachhinein einen bitteren Unterton bekommt: „Team Ingebrigtsen“. Ein Team sind sie längst nicht mehr, 2022 trat Gjert als Trainer seiner drei Söhne zurück. Heute weiß man, dass es die Söhne waren, die damals mit ihm gebrochen haben. Nachdem die Brüder 2023 in einer Zeitung über Gewalt und psychischen Missbrauch geschrieben hatten, fing die Staatsanwaltschaft an, gegen den Vater zu ermitteln.

Es geht um Prügelattacken und Drohungen

„Die Anklagepunkte sind sehr schwerwiegend. Sie beziehen sich auf Gewalt über zehn Jahre, seit Jakob ein kleiner Junge war“, sagte Ingebrigtsens Anwältin vor dem Prozess. Es geht um Prügelattacken und Tritte in den Bauch. Dazu kommen laut Anklage Demütigungen und Drohungen, den Jungen krankenhausreif zu schlagen. Am Dienstag sagte Jakob Ingebrigtsen im Gerichtssaal, er sei in einer Atmosphäre ständiger Angst aufgewachsen. Seine Schwester Ingrid sei noch größeren Repressalien ausgesetzt gewesen als er selbst, „es war klar, dass sie Weltmeisterin werden muss“. Die heute 19-Jährige hat vor einigen Jahren mit dem Hochleistungssport aufgehört.

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Vater Gjert sagt, er sei zu sehr Trainer und zu wenig Vater gewesen, habe aber keines seiner Kinder je körperlich oder psychisch misshandelt. Der Prozess wird wohl zwei Monate dauern. Alle Geschwister sollen aussagen sowie auch die Mutter, die kürzlich sagte, sie habe „mit Gjert einen Pakt geschlossen, den ich nicht brechen werde“. Dem Vater, der am kommenden Montag aussagen soll, drohen sechs Jahre Haft.

In sportlicher Hinsicht scheint der Prozess Jakob Ingebrigtsen nichts anzuhaben, siehe die Erfolge in Nanjing. Ingebrigtsen sagte kürzlich, er wolle sämtliche Weltrekorde auf den Distanzen von 1500 Metern bis zum Marathon brechen. Konkret wären das 1500 Meter, eine Meile, 2000 Meter, 3000 Meter, zwei Meilen, 5000 Meter, 10 000 Meter, Halbmarathon und Marathon. Bisher hat er Weltrekorde über 1500 Meter, die Meile, 2000 Meter, 3000 Meter und über zwei Meilen eingesammelt, also schon mehr als die Hälfte der neun Disziplinen. Im Prozess sagte er auf die Frage, ob er als Kind geweint habe: „Nein, nie“, und ergänzte, seine Verteidigung habe darin bestanden, „weder Widerstand zu leisten noch glücklich oder traurig zu sein“. Er bekomme ja oft Lob dafür, unter Druck sehr gute Leistungen zu erbringen, „aber das liegt daran, dass ich gut trainiert habe“.

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