Norwegen: Das Leid der Helfer:"Als würde ich in ein Loch fallen"

Norwegen feiert die Helfer von Utøya als Helden. Aber wenn die Kameras und Blitzlichter verschwunden sind, bleiben die Retter mit ihren Erinnerungen an das Grauen zurück.

Gunnar Herrmann, Oslo

Der Applaus trifft Kent Espen Sandsbråten und seine Kollegen unvermittelt. Etwas verloren stehen sie in ihren roten Uniformen vor dem Osloer Dom, zwischen den Absperrgittern, hinter denen die Menge klatscht. Es ist ein ernster Beifall, der den Sanitätern entgegenschallt, kein Jubel, keine Hurra-Rufe. Aber der Applaus ist lauter als jener für Kronzprinz Haakon, der gerade eben in einer schwarzen Limousine davongefahren ist. Niemand aus Sandsbråtens Gruppe lächelt. Manche Retter wischen sich Tränen von den Wangen, andere legen Rosen auf das Blumenmeer vor dem Dom. Dann bahnen sie sich ruhig ihren Weg durch die Menge.

Norwegen: Das Leid der Helfer: Blumenschmuck für die Ambulanz: Norwegens Bürger danken den Sanitätern und Helfern, die nach dem Massaker im Einsatz waren.

Blumenschmuck für die Ambulanz: Norwegens Bürger danken den Sanitätern und Helfern, die nach dem Massaker im Einsatz waren.

(Foto: AP)

Sandsbråten gehörte zu den ersten Sanitätern, die am 22. Juli auf der Insel Utøya eintrafen. Er wird diesen Einsatz niemals vergessen. "Überall Verletzte, überall verzweifelte Menschen, die schreckliche Angst hatten", erzählt er. Die darauffolgende Nacht wurde zur längsten seines Lebens. Der Applaus, sagt er, helfe ihm nun dabei, das Erlebte zu verarbeiten. "Es rührt mich und macht mich stolz auf meine Uniform."

Polizei in Oslo bestätigt: Attentäter hatte weitere Ziele

Die Geschichte des Mannes steht stellvertretend für die vieler Retter, die nach den Terroranschlägen an die Orte des Grauens kamen. "Norwegen hat an jenem Wochenende eine Menge neuer Helden bekommen", schrieb die Zeitung Aftenposten kürzlich. Nachdem sich in den ersten Tagen alle mit den Opfern des Anschlags beschäftigt hatten, war es nun an der Zeit, sich auch um diese Helden zu kümmern. Sie wurden zu einem Gedenkkonzert in den Dom eingeladen, gemeinsam mit Angehörigen und Überlebenden der Anschläge. Viele Osloer haben das Konzert auf einer großen Videoleinwand in der City mitverfolgt. Nun kommen Feuerwehrleute, Polizisten, Soldaten nach und nach aus dem Dom und blinzeln mit roten Augen in die Sonne. Hunderte haben sich versammelt, um sie zu begrüßen. Die meisten Retter tragen Uniform, einige Taucher haben sogar ihre Sauerstoffflaschen mitgebracht - sie waren es, die tagelang im Tyrifjord-See nach Leichen suchten.

Mitten in der Trauer verdichten sich in Oslo aber auch die Anzeichen dafür, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Seinem Anwalt Geir Lippestadt zufolge hatte der mutmaßliche Attentäter Anders Behring Breivik neben Insel und Regierungssitz weitere Ziele im Visier. Medien nannten das Königsschloss und die Parteizentrale der Sozialdemokraten. Die Polizei bestätigte nur, dass Breivik weitere Pläne hatte - wann und warum er sie änderte, sei unklar. Im Verhör soll der mutmaßliche Massenmörder laut dem Fernsehsender NRK inzwischen angeboten haben, Komplizen zu verraten. Als Bedingung für eine Zusammenarbeit nannte er den Rücktritt der Regierung. Experten halten den Mann jedoch für einen Einzeltäter. Der Spiegel berichtet, dass die Ermittler noch große Mengen des Düngemittels suchen, von dem Breivik vor dem Anschlag sechs Tonnen gekauft haben soll. Für die Bombe im Regierungsviertel verwendete er demnach nur einen Bruchteil. Die Osloer Polizei wollte den Bericht nicht kommentieren.

Den neuen Erkenntnissen zufolge soll Breivik sich bei seinen Anschlägen außerdem verspätet haben, weil sich nach Unfällen der Verkehr in der Stadt staute. Als die Bombe dann um 15.25 Uhr im Regierungsviertel detonierte, waren viele Angestellte bereits auf dem Weg ins Wochenende. Auch auf der Fahrt vom Zentrum zum Tyrifjord wurde er von Staus gebremst. Statt - wie normal - 40 Minuten brauchte er etwa doppelt so lange. Das Massaker auf Utøya begann den neuen Angaben zufolge um 17.09 Uhr. Kurz zuvor wäre noch die ehemalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland auf der Insel gewesen. Unklar ist noch, warum der erste Notruf aus Utøya bei der Polizei erst um 17.27 Uhr registriert wurde.

Trauma-Experten: Vergesst die Retter nicht

Björnar Tuv Dahl kann sich noch gut daran erinnern, wie er kurz nach 18 Uhr am Tyrifjord eintraf. "Wir standen dort genau 18 Minuten am Wasser und hörten Schüsse", sagt der bullige Mann, der wie Sandsbråten als Sanitäter im Krankenhaus Buskerud arbeitet. "Wir dachten, Polizei und Täter liefern sich ein Feuergefecht." Erst später wurde ihm klar, dass er gehört hatte, wie der Mörder seine wehrlosen Opfer erschoss, während die Polizei noch auf dem Weg war. "Es ist schwer, daran zu denken", sagt Dahl.

In norwegischen Medien mahnen Trauma-Experten derzeit immer wieder an, die Retter nicht zu vergessen. Denn die wirklich schwere Zeit beginnt erst, wenn die Kameras und die Blitzlichter verschwunden sind, und die Helden von Oslo allein bleiben mit ihren Erinnerungen. Vereinzelt wurden schon Rufe nach einem nationalen Betreuungsprogramm laut. Sandsbråten lobt unterdessen die gute Unterstützung, die er bis jetzt erfahren habe. In der Woche nach dem Anschlag hat er bereits wieder gearbeitet. Am Anfang sei es schwer gewesen. "Es fühlte sich an, als würde ich in ein Loch fallen." Aber jetzt gehe es schon wieder.

Nicht alle Kollegen haben die Erlebnisse so gut verkraftet. Das Krankenhaus Buskerud musste sich in der vergangenen Woche Personal von anderen Kliniken ausleihen. Sandsbråten sagt, am meisten habe ihm geholfen, dass er nach der langen Nacht mit seinem Kollegen Dahl noch einmal zum Hotel Sundvolden gefahren sei. Da war es etwa 3.30 Uhr, der Morgen dämmerte über dem Tyrifjord. Die Sanitäter hatten alle Verletzten von der Insel geschafft. Am Ende halfen sie noch, die Leichen in weiße Plastiksäcke zu packen. Im Hotel trafen sie dann die Überlebenden. "Es war eine unglaubliche Erleichterung zu sehen, wie gut die dort versorgt waren", sagt Sandsbråten. Auf die anderen Einsatzkräfte lässt er nichts kommen. "In dieser Nacht war keiner größer als der andere. Alle haben ihr Bestes gegeben."

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