Prozess gegen Vorgesetzte von Niels Högel:"Dieses Verfahren lässt uns alle traurig zurück"

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Kolleginnen und Kollegen von Niels Högel hatten durchaus Misstrauen, weil in seiner Schicht so viele Patienten reanimiert werden mussten. Aber daraus folgte nichts. Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Freispruch für alle: Das Landgericht Oldenburg sieht es als nicht erwiesen an, dass die ehemaligen Vorgesetzten den 85-fachen Patientenmörder Niels Högel vorsätzlich gewähren ließen. Der Richter redet den Angeklagten dennoch ins Gewissen.

Von Saskia Aleythe, Oldenburg

Krankenhäuser sind sensible Gebilde. Das erwähnte auch der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann am Donnerstag, als er sein Urteil im Prozess über die ehemaligen Vorgesetzten des Patientenmörders Niels Högel sprach: Keinem der insgesamt sieben Angeklagten sei Beihilfe zum Totschlag oder zum versuchten Totschlag durch Unterlassen nachzuweisen, befand das Landgericht Oldenburg, deswegen konnte es am Ende nur den Freispruch geben. Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung hatten vorab schon dafür plädiert. Doch Bührmann verwies auch auf die Fehler, die passiert seien, in der Justiz, aber auch in den Kliniken. "Sie haben Misstrauen gehabt!", so spricht er die Angeklagten an, man "hätte sich gewünscht, dass viel klarer diesem Misstrauen nachgegangen worden wäre". Und dann schloss er mit dem Satz: "Dieses Verfahren lässt uns alle traurig zurück."

17 Jahre nach Högels letztem Mord atmeten die Beschuldigten nach dem Richterspruch auf: drei Ärzte, zwei leitende Pflegerinnen, ein leitender Pfleger sowie ein Ex-Geschäftsführer. Sie hatten mit Högel zu tun, als der noch Krankenpfleger an den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst war und sich die Reanimationen häuften, wenn er im Dienst war. Für 85 Morde wurde er 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt, er ist damit der Serienmörder mit den meisten Opfern in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der heute 45-Jährige hatte Patienten nicht verordnete Medikamente gespritzt, um sich bei den anschließenden Wiederbelebungsversuchen zu profilieren. Mit dem Urteil gegen Högel waren jedoch längst nicht alle Fragen geklärt, vor allem nicht eine der wichtigsten: Warum hat ihn in all den Jahren niemand gestoppt?

Insgesamt ging es um acht Fälle: drei Morde in Oldenburg sowie drei Morde und zwei Mordversuche in Delmenhorst. Unter den Kollegen gab es Getuschel, wenn Högel Dienst hatte. So sagte es Bernd N., Ex-Vorgesetzter des Patientenmörders, in einem aufgezeichneten Telefonat 2018 einem Bekannten. Das Gespräch wurde vor den Plädoyers im Festsaal der Weser-Ems-Hallen in Oldenburg noch abgespielt, dort verhandelt das Gericht.

Der Prozess wurde aus Platzgründen in den Festsaal der Weser-Ems-Halle verlegt. (Foto: Sina Schuldt/dpa)

Es habe Vermutungen über Högel gegeben, sagt N., aber niemand sei zu ihm, dem Vorgesetzten, gekommen und habe gesagt, Högel sei ein Mörder. Für ihn habe es das nicht gegeben, "dass jemand neben mir arbeitet und mordet". Was nicht sein durfte, passierte trotzdem. Davon wollten etliche Zeugen aus den Krankenhäusern nichts mitbekommen haben. Ein Gutachter attestierte Högel, der auch in diesem Prozess aussagte, eine hohe Lügenkompetenz.

Die Ärzte ließen eine Strichliste führen - ein Beleg des Misstrauens, aber daraus folgte nichts

In der Abteilung Herzchirurgie des Klinikums Oldenburg wollte sich Högel beweisen gegenüber den Ärzten. Er spritzte Medikamente wie Gilurytmal, Sotalex oder auch Kalium, um die Patienten in Lebensgefahr zu bringen und dann die Chance zu haben, sich als Retter hervorzutun. In vielen Fällen war die Dosis jedoch tödlich.

Der Vorgesetzte Bernd N. hatte eine Liste über die Anzahl der Reanimationen und Todesfälle im Klinikum Oldenburg geführt, dazu die Pfleger notiert, die währenddessen Dienst hatten: 18 Striche bei Högel, acht mehr als beim folgenden Kollegen. Ein ehemaliger Herzchirurg, ebenfalls angeklagt, soll das Führen der Liste angeordnet haben, "er hatte offenbar den richtigen Riecher", sagte Staatsanwältin Gesa Weiß in ihrem Plädoyer. "Die Liste ist ein Beleg, wie viel Misstrauen herrschte", sagte auch der Richter. Der ehemalige Geschäftsführer soll gegen ein Einschalten der Behörden gewesen sein, das behauptet N. ebenfalls im aufgezeichneten Telefonat.

Einzelne Angeklagte hätten "Schuld auf sich geladen", sagte Weiß, allerdings solche, die nicht justiziabel sei. "Infusionen von Patienten wurden ausgetauscht, wenn Högel Dienst hatte", sagte sie, es gab eine Versammlung, in der auffällige Kalium-Werte thematisiert wurden. Es wurde auch geredet über ein Wochenende, an dem ungewöhnlich viele Patienten starben, im Beisein von Högel. Högel wechselte in die Anästhesie, je nach Aussage freiwillig oder auf Anraten der Vorgesetzten, ein Jahr später legte man ihm nahe, zu kündigen. Ausgestattet mit einem guten Zeugnis wechselte er 2002 an die Klinik in Delmenhorst. Und mordete dort weiter.

Blick auf das ehemalige Klinikum Delmenhorst (heute Josef-Hospital Delmenhorst). Hier war Patientenmörder Niels Högel einst beschäftigt. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

2005, fünf Jahre nach seiner ersten Tat, wurde er in Delmenhorst von einer Schwester beim Spritzen erwischt, durfte trotzdem noch eine Schicht absolvieren, da tötete Högel noch einmal. 130 Verdachtsfälle kommen zu den 85 Todesfällen, für die er verurteilt wurde, dazu, bei ihnen konnte die Todesursache aber nicht mehr geklärt werden.

Das "faule Ei" wurde einfach weitergereicht, ähnlich wie in der katholischen Kirche

Über Högels Wechsel von Oldenburg nach Delmenhorst sagte Staatsanwältin Weiß: Der ehemalige Geschäftsführer in Oldenburg habe entschieden, "das faule Ei weiterzureichen". Dieses Vorgehen erinnere sie an den Umgang der katholischen Kirche mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen.

Aber auch Weiß kam zu dem Schluss, dass keinem der Beschuldigten Vorsatz nachgewiesen werden könne. Die Kammer folgte vielen ihrer Ansichten. "Es ist kein Freispruch aus Mangel an Beweisen. Es ist positiv festzustellen, dass kein vorsätzliches Fehlverhalten vorliegt", betonte Richter Bührmann. Die eingeleitete Trennung von Högel am Klinikum Oldenburg kommentierte er aber so: "Einen anderen Schluss, als dass man die Laus aus seinem Pelz haben wollte, kann man nicht ziehen." Dennoch hätten die Beschuldigten deutlich gemacht, dass niemand Högel bewusstes Töten zugetraut habe. "Das ist das Tragische des Unbegreifbaren", sagte der Richter.

Dass man wenig Neues im Prozess habe herausfinden können, bedauerte Bührmann, vor allem in Hinblick auf die Angehörigen der Opfer. "Es ist auch ein Justizversagen", sagte er. Vereinzelt hatte es Anzeichen für strafbare Fahrlässigkeit gegeben - aber die war verjährt, nachdem die Ermittlungen erst mehr als zehn Jahre nach der letzten Tat Högels in Bewegung gekommen waren.

Sind die Krankenhäuser sicher?

Und so bleiben auch manche Fragen ungelöst. Wer ernsthaft krank ist, kommt kaum darum herum, sich in einer Klinik behandeln zu lassen, er muss den Ärzten und Pflegern vertrauen. Und daran glauben, dass das, was in Oldenburg und Delmenhorst passiert ist, nicht wieder geschehen kann. "Alles, was wir hier besprechen, darf nicht dazu führen, dass wir das Vertrauen in gut arbeitende Krankenhäuser verlieren", sagte Richter Bührmann.

Aber dann war da noch der vielleicht einprägsamste Satz der vergangenen Tage, jener des ehemaligen Vorgesetzten N. aus seinem abgehörten Telefonat von 2018: Wenn einer wie Högel heute wieder auftauche, so N., könne er genauso weiter morden.

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