Süddeutsche Zeitung

Niedersachsen:Wenn Hausnummer 9 und 38 Nachbarn sind

Lesezeit: 3 min

Von Thomas Hahn

An der Sache mit den Hausnummern könnten Herzen zerbrechen. Das weiß jeder, der die Menschen von Hilgermissen kennt, und deshalb blickt nun auch Detlef Meyer mit leisen Bedenken auf die Neuauflage eines alten Streits. Meyer ist der Bürgermeister der Samtgemeinde Grafschaft Hoya, zu der Hilgermissen gehört. Die Gemeinde liegt weitläufig und ruhig in den Feldern des niedersächsischen Landkreises Nienburg/Weser und weist eine Besonderheit auf, die Auswärtigen die Orientierung erschwert: In den acht Ortsteilen haben die Straßen keine Namen und keine aufsteigenden Hausnummern. Die Adressen bestehen aus dem Namen des Ortsteils und einer Zahl, die dem Haus scheinbar willkürlich zugeordnet ist. Zum Beispiel Wechold 29 oder Magelsen 11 in 27318 Hilgermissen.

Im Juni stimmte der Gemeinderat knapp dafür, das zu ändern und reguläre Straßennamen einzuführen. Viele Einheimische waren empört, es läuft ein Bürgerbegehren gegen den Beschluss. Aber wenn das scheitert? Wenn die kritischen Hilgermisser wirklich normale Adressen bekommen? "Dann sind die sicherlich brüskiert", sagt Meyer vorsichtig.

In Städten würde niemand je infrage stellen, dass eine Straße einen Namen und Hausnummern eine nachvollziehbare Reihenfolge brauchen. Aber der Charakter des Hinterlandes ist anders. Hier können auch mal Gepflogenheiten überleben, die seit Jahrhunderten out sind. Zum Beispiel die älteste Methode der Hausnummernvergabe, bei der die Häuser eines Ortes durchnummeriert werden und jedes neue Haus einfach die nächsthöhere Zahl bekommt. Hilgermissen ist ein bewohntes Relikt aus einer anderen Zeit. Bei der Adressendebatte geht es deshalb nicht um Formalien. Es geht um ein Bewusstsein für die Geschichte des ländlichen Raumes, um Heimatgefühl und Erdverbundenheit. "Es ist auch ein Stück Identität", sagt Johanna Lücking, eine junge Mutter, die seit ein paar Jahren in Hilgermissen wohnt, "es macht den Charakter der Dörfer aus, dass die Hausnummern so bunt verteilt sind."

In Hilgermissen leben auf einer Fläche von 54 Quadratkilometern nur 2200 Menschen. Urige Höfe, Backsteinkirchen, knorrige Bäume prägen das Bild der Ortsteile. Das soziale Leben ist rege, es gibt allein sieben freiwillige Feuerwehren und sechs Schützenvereine. Plattdeutsch ist die Alltagssprache. Und Johann Hustedt, seit 20 Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister, findet, dass die Welt in Hilgermissen noch in Ordnung ist: "Das Wehklagen ist hier nicht ausgeprägt." Aber der Streit ist ernst, er teilt die Gemeinde in zwei Lager. Schon vor zehn Jahren wurden Beschwerden darüber laut, dass die Adressen so schwer zu finden seien für Krankenwagen oder Paketdienste. 2013 folgte eine Bürgerbefragung. Ergebnis: 60 zu 40 für die alten Adressen.

Doch dann kam Hilgermissen 2014 in ein von der EU gefördertes Programm zur Dorferneuerung, das Gegenwartsprobleme des ländlichen Raums wie Erreichbarkeit und demografischen Wandel bearbeitet. "Im Zuge dieses Programms hat man wieder über die Auffindbarkeit nachgedacht", erzählt Detlef Meyer. Vier Lösungsansätze kamen im Juni zur Abstimmung im 13-köpfigen Gemeinderat - darunter die Einführung von Straßennamen. Ergebnis: sieben zu fünf Stimmen gegen die alten Adressen, ein Ratsmitglied fehlte.

Seither gibt es Ärger in der Idylle. Mit den neuen Straßennamen verfiele auch der Bestandsschutz für die historischen Hausnummern. Jedes Haus bekäme eine neue Nummer nach dem sogenannten Pariser Modell, nach dem die Häuser von der Dorfmitte weg aufsteigend durchnummeriert werden, mit den ungeraden Zahlen auf der linken Straßenseite und den geraden auf der rechten. Aber viele Einheimische wollen die Nummer nicht hergeben, die seit Generationen ihr Haus bezeichnet. Sie wollen auch nicht, dass die Namen der Ortsteile, die bis 1974 eigenständige Dörfer waren, hinter gewöhnlichen Straßennamen verschwinden. "Davor habe ich Angst", sagt Johann Hustedt, "dass man nicht mehr sagen kann: Das ist in dem Ort."

Heinz Meyer, einer der Initiatoren des Bürgerbegehrens gegen die Straßennamen, findet die Reform schlicht nutzlos: "Ich sehe den Sinn nicht. Jeder kann gefunden werden." Er verweist auf Ortsschilder und moderne Navigationssysteme. "Über Google kann man alles ganz genau sehen", sagt auch Bürgermeister Hustedt. Wobei er zugibt: "Das ist nicht ideal, wenn neben der 100 die 75 ist."

Klare Verhältnisse trotz Chaos-Nummern

"Katastrophe!", ruft Jürgen Heruth, 70, Besitzer des Gasthauses Thielhorn in Wechold 3. Seit April wohnt er direkt neben der Gaststätte im früheren Bankgebäude, Wechold 139. Gegenüber ist das Haus Wechold 171. Es ist tatsächlich verwirrend, und Heruth erzählt von Lkw-Fahrern, die in seiner Gaststätte verzweifelt nach dem Weg fragten. Er hat einen Plan, auf dem alle Häuser mit Nummern verzeichnet sind. "Damit kann ich allen sagen, wo die Häuser sind, das findet sonst keiner." Irgendein System im Ort? "Gar keines!", sagt Heruth und hat dafür ein gutes Beispiel. "Wissen Sie, wo Wechold 99 ist?" Nachdem er einem Sanitäter den Weg zur Nummer 100 erklärt hatte, fragte er sich das mal selbst: Wo ist die 99? Nicht neben der 100, klar. Aber das Ergebnis der Suche überraschte ihn dann doch: "Das Rittergut Wührden hat die 99!" Dabei liegt das historische Anwesen zwei Kilometer von der Nummer 100 entfernt, fast näher an Eitzendorf.

Detlef Meyer, der Bürgermeister der Samtgemeinde Grafschaft Hoya, betrachtet den Ärger mit etwas Abstand. Als Chef der Ordnungsbehörde war er zunächst ein Befürworter der neuen Adressen. Aber er versteht auch die Straßennamen-Verächter, schon weil der Wechsel auch praktische Folgen hätte. "Da muss ja dann alles geändert werden, die Ausweise zum Beispiel." Meyer ist froh, wenn die Sache mit Hilfe des Bürgerbegehrens demokratisch gelöst wird. Damit am Ende klare Verhältnisse herrschen - mit oder ohne chaotische Hausnummern.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2018
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