Süddeutsche Zeitung

Mysteriöser Fall in den Niederlanden:Abgeschieden vom Rest der Welt

Ein Vater haust mit sechs Kindern jahrelang auf einem Bauernhof, wohl ohne jeden Kontakt zu anderen Menschen. Wurden sie gefangen gehalten? Haben sie sich bewusst isoliert? Nichts ist klar, nur, dass ein Österreicher in Polizeigewahrsam ist.

Von Ralf Wiegand

Viele Menschen leben nicht hier. Genau genommen wohnen in den eher dicht besiedelten Niederlanden nirgendwo weniger Menschen als in der Provinz Drenthe. Zur Ortschaft Ruinerwold gehört ein Haus, versteckt gelegen wie Dornröschens Schloss, von einer Hecke umwuchert, von Zäunen beschützt, erreichbar nur über eine schlichte Brücke. Der nächste Nachbar wohnt hundert Meter entfernt. Über dieses Haus twitterte die Polizei am Dienstagmorgen: Es habe sich jemand gemeldet, der sich Sorgen um die Lebensbedingungen von Menschen in einem Haus am Buitenhuizerweg in Ruinerwold mache. Sie würden dort in einem geschlossenen Raum leben. "Wir gingen dorthin."

Und so kam es, dass in Ruinerwold, das sich für deutsche Ohren anhört wie der Titel eines Fantasyspiels, nichts mehr ist, wie es vorher war. Denn in dem besagten Haus am Buitenhuizerweg, einem Gehöft inmitten unbestellter Felder, fanden die Beamten sechs weitere Menschen, die neben dem Hinweisgeber dort - und schon ab hier spielt alles Weitere im Konjunktiv - abgeschieden und ohne Kontakt zum Rest der Welt gehaust haben sollen, womöglich seit neun Jahren. Es soll sich um einen Mann und seine Kinder handeln.

Was genau in dem Anwesen geschehen ist, darüber gibt es bisher nur Spekulationen. Die Familie habe das Ende der Welt erwartet, sagen die einen, das Ende der Zeit, sagen die anderen. Tageslicht hätten sie als "böse" empfunden. Die Kinder, angeblich zwischen 18 und 25 Jahre alt, sollen bei der Ankunft der Polizei überrascht gewesen sein, dass es noch andere Menschen auf der Welt gibt als sie. Das alles stammt aber nicht aus sicheren Quellen.

Die Fakten, auf die sich die Polizeibehörde der Provinz Drenthe bisher festlegen lässt, lesen sich weitaus nüchterner: Nachdem sich der junge Mann ihnen gegenüber besorgt über die Lebensbedingungen seiner Familie gezeigt habe, seien die Beamten zu der genannten Adresse gefahren und hätten dort in einem kleinen Raum des nicht unterkellerten Hauses sechs weitere Personen gefunden. Unklar sei, ob sie freiwillig dort waren. Möglicherweise lebten sie schon seit 2010 in dem Zimmer, gemeldet seien sie nicht gewesen.

"Ich bin kein Psychologe, also habe ich die Polizei gerufen"

Offenbar ist der älteste Sohn, er soll 25 Jahre alt sein, in den vergangenen beiden zwei Wochen zweimal in der Dorfkneipe De Kastelein aufgetaucht, bärtig, langhaarig, verwirrt, berichten mehrere Medien. Beim ersten Mal habe er hastig ein paar Bier getrunken. "Er schien von der Kneipe beeindruckt zu sein", erzählte der Wirt Chris Westerbeek niederländischen Zeitungen, "wahrscheinlich hatte er so etwas noch nie gesehen." Der Fremde sei scheu und ungepflegt gewesen, was aber im vollen Lokal nicht so aufgefallen sei. "Beim zweiten Mal bat er um Hilfe", wird Westerbeek zitiert, "er wollte, dass die Situation im Keller zu Ende ging, aber er wollte nicht viel darüber sagen. Ich bin kein Psychologe, also habe ich die Polizei gerufen." Für ihn sei der junge Mann, er nannte ihn Jan, ein Held.

Laut Polizei haben die aufgefundenen Menschen auf dem Hof angegeben, eine Familie zu sein - Vater, sechs Kinder - und allesamt volljährig. "Dies wird weiter untersucht", teilte die Polizei mit. Sie seien zu einem Arzt gebracht worden, "wir kümmern uns natürlich und achten auf die Familie", schrieb die Polizei. Mieter des Anwesens sei aber ein 58-jähriger Mann, dessen Rolle noch überprüft werden müsse. Seine Beziehung zu der Familie sei noch unklar, der Mann habe bisher nicht mit den Behörden kooperiert. Der Polizei zufolge ist er festgenommen worden.

Gegen ihn wird wegen Freiheitsberaubung ermittelt, gab die zuständige Staatsanwaltschaft am Mittwochnachmittag bekannt.

Inzwischen hat das österreichische Außenministerium bestätigt, dass es sich bei dem Mann um einen Österreicher handelt, der 2010 von Wien in die Niederlande gezogen sein soll. Anwohner erzählten niederländischen Medien, "Josef, der Österreicher" sei kein sehr netter Mensch. Er habe auf Fremde gereizt reagiert und die Gegend mit einem Fernglas observiert; er sei oft auf dem Hof gewesen. Dass dort noch andere Menschen lebten, versteckt, will niemand gewusst haben.

"Wir verstehen, dass jeder noch viele Fragen hat"

"Alle Szenarien sind denkbar", sagt die Polizei. Auch der Bürgermeister der Gemeinde, Roger de Groot, hat mehr Fragen als Antworten. Ihm zufolge war die Mutter der Kinder schon gestorben, bevor die Familie auf den Hof zog. Manche der Kinder seien standesamtlich registriert, andere nicht, sagte de Groot. Ob ihr Fehlen in der Schule nicht aufgefallen ist, warum keine Behörde sich um ihren Verbleib kümmerte - das alles müsse untersucht werden. Aber offenbar sei es möglich, dass eine Familie "komplett unter dem Radar gelebt habe", sagte der Bürgermeister.

Warum der älteste Sohn offenbar mehrmals den Hof verlassen konnte, wer den Vater versorgt hat, der angeblich schwer krank war (die einen berichten von einem Herzinfarkt, andere von einem Schlaganfall), ob der Gemüsegarten, eine Ziege und ein paar Gänse zur Selbstversorgung gereicht haben, warum immer von einem Keller geredet wurde, obwohl es gar keinen Keller gibt? Es sei ein großes Untersuchungsteam gegründet worden, das unter der Leitung der Staatsanwaltschaft mögliche Straftaten untersuche, sagt die Polizei in Drenthe: "Wir verstehen, dass jeder noch viele Fragen hat. Die haben wir auch."

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SZ vom 17.10.2019/ mpu
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