New Orleans:Empfang mit Sturmgewehr

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Die Flüchtlinge aus New Orleans haben Schreckliches durchlebt. Sie haben nach Hilfe geschrien - und keinen hat es gekümmert. In Houston merken die Opfer, dass ihnen nur die Wut bleibt.

Reymer Klüver

Houston, 9. September - Wie die Tiere hat man sie behandelt, zwei Tage lang eingesperrt auf einem umzäunten Autobahnstück. Tagsüber knallte die Sonne auf die Betonpiste herab, nachts leuchteten generatorenbetriebene Scheinwerfer das provisorische Camp aus, irgendwo im Straßengewirr im Westen von New Orleans.

Am einen Ende stand das dunkle Wasser, am anderen hielten schwer bewaffnete Polizisten die geretteten Flutopfer in Schach. "Stellen Sie sich das vor", sagt Marie Hale, "sie haben drei Tage irgendwo auf einem Dach hinter sich, ohne Essen, ohne Wasser. Sie haben alles verloren und werden dann empfangen mit M-16-Sturmgewehren. In Amerika!"

58 Jahre ist die Frau alt, unbeweglich sitzt sie in ihrem schwarzen Rollstuhl am Rand des Betonbodens im neonlichtdurchfluteten Rund des Astrodome von Houston, dem größten Auffanglager für die Flüchtlinge aus New Orleans. Knapp 3000 Menschen haben hier Platz gefunden, auf Feldbetten der Armee.

Und viele, zu viele haben Geschichten zu erzählen, wie sie diese Frau mit dem Turban aus leuchtend-violettem Tuch über dem schwarzen Haar, der großen Goldrandbrille und dem Kreuz aus billigem, rosafarbenem Plastik um den Hals erzählt.

Keiner hat geholfen

Sie habe geschrieen vor Schmerz, sagt Marie Hale, und keiner hat sie gehört. Sie habe gefleht in Gottes Namen, und keinen hat es gekümmert. Bei einer nierenkranken Frau neben ihr war die Dialyse überfällig. Der Sheriff sagte nur, er sei Sheriff und wisse nicht, was Dialyse sei. Ein winziges, völlig entkräftetes Baby brauchte dringend Wasser, doch keiner hat geholfen.

Irgendwann kamen sie und warfen Wasserflaschen über den Zaun, so wie man die Affen im Zoo füttert. Weiße waren es, ausnahmslos Weiße, Polizisten aus Jefferson Parish, dem Vorort im Westen von New Orleans, die sie bewachten. Und hinter dem Zaun saßen Schwarze, ausnahmslos Schwarze aus den untergegangenen armen Vierteln im Osten der Stadt.

Es sind Geschichten wie diese, die lange nachhallen werden in den Vereinigten Staaten. Geschichten, die bloßlegen, was man glaubte, hoffte, losgeworden zu sein in dem halben Jahrhundert seit Beginn der Bürgerrechtsbewegung in Amerikas Süden. Rassismus und soziale Benachteiligung gehören aber noch immer zur Lebenswirklichkeit der Schwarzen, und die Flut hat das schmerzhaft zurückgebracht ins Bewusstsein der Nation.

Schon in der vergangenen Woche hatten schwarze Kongressabgeordnete die fatale Saumseligkeit, mit der die Regierung in Washington die Hilfsaktion anlaufen ließ, als Zeichen fortgesetzten Rassismus gewertet. 71 Prozent aller schwarzen Amerikaner glauben einer Umfrage zufolge, dass die Katastrophe zeige, wie sehr Schwarze in den USA noch immer benachteiligt sind. Der Großteil der Opfer in New Orleans ist schwarz.

Fast alle, die man im Astrodome anspricht, erzählen davon. Einige so direkt wie Marie Hale. Andere wie Reginald Stewart, der in den Superdome von New Orleans geflohen war, deuten es an. Er sagt, dass die Vorfahren ihnen die Kraft gegeben hätten, untragbares Leid zu überstehen.

"Wir sind es gewohnt, zu kämpfen"

Oder wie Gaynell Warden, die in der Abenddämmerung auf dem sauberen Fußweg vor der Houstoner Sporthalle sitzt. Sie wisse nicht, wohin sie mit ihren drei Kindern gehen solle, sagt sie. Sie bete zu Gott, dass ihr 16-Jähriger nicht auf die schiefe Bahn gerate in dieser Not. "Aber wir sind es gewohnt, zu kämpfen." Sie meint die Schwarzen.

Zurückkehren nach New Orleans will so gut wie keiner der Flüchtlinge. Nicht nach New Orleans, nicht nach Louisiana. Angst vor den Hurrikanen habe sie, sagt Marie Hale, die Frau im Rollstuhl, und Angst vor den Politikern. "Die haben mit unserem Leben Russisch Roulette gespielt."

Zu viele Menschen seien gestorben, die nicht hätten sterben dürfen. Zu viel sei geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen. "Dafür wird jemand bezahlen müssen", sagt Hale, "hoffentlich."

Die nierenkranke Frau im Autobahnlager hat schließlich Hilfe gefunden, erzählt Marie Hale. Die Frau wurde fortgetragen, ehe die Polizisten die anderen zum Bus nach Houston leiteten. Für das Baby aber kam die Rettung zu spät.

Es war gestorben, ehe die Wasserflaschen über den Zaun flogen. "Schreiben Sie das alles auf", sagt Marie Hale zum Abschied, "schreiben Sie es auf."

© SZ vom 10.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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