Neuruppin:"Das fast perfekte Verbrechen"

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Sie zog es vor, zu schweigen: Erna F., 74, im April dieses Jahres im Gerichtssaal in Neuruppin. (Foto: Bernd Settnik/dpa)
  • Das Landgericht Neuruppin hat eine 74-Jährige vom Vorwurf freigesprochen, ihren Sohn vor knapp 42 Jahren in der damaligen DDR ermordet zu haben.
  • Der Vorsitzende Richter sagt, dass das Gericht alles getan hätte, "was in unserer Macht stand, um die Wahrheit herauszufinden".

Von Verena Mayer, Neuruppin

Die Frau, die ihren achtjährigen Sohn mit Gas ermordet haben soll, steigt im brandenburgischen Neuruppin aus einem Erste-Klasse-Abteil und spaziert durch die schmucke Einkaufsstraße. Sie guckt in Boutiquen und die Schaufenster einer Konditorei, eine elegante Erscheinung mit dunklem Mantel und sorgfältig hochgestecktem Haar. Erna F. wirkt, als sei sie zum Stadtbummel hier und nicht als Angeklagte in einem Mordprozess.

Daran ändert sich auch nichts, als die Richter den Saal des Landgerichts Neuruppin betreten, um das Urteil zu verkünden. Regungslos steht die 74-Jährige da, den Blick zum Fenster gerichtet. Als gehe es nicht darum, ob sie für zehn Jahre ins Gefängnis muss. Das hat die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer gefordert. Sie ist überzeugt, dass Erna F. vor 42 Jahren im ostdeutschen Schwedt ihren Sohn loswerden wollte und ihn eines Nachts erst mit Schlaftabletten betäubte und dann zum Herd schleppte, aus dem Gas ausströmte. Im Blut des Kindes wurde später ein Kohlenmonoxidgehalt von 73 Prozent festgestellt, eine tödliche Dosis. "Das fast perfekte Verbrechen", sagt die Staatsanwältin.

Dass Erna F. nun von der Vergangenheit eingeholt wird, liegt an einem Brief, der 2009 bei der Staatsanwaltschaft Hannover einging. Darin stand, Erna F. habe ihren Sohn Mario ermordet. Wer das schrieb, weiß man bis heute nicht. Auch nicht, warum F. das getan haben sollte. Auch sonst liegt vieles im "Dunkel der Vergangenheit", wie der Vorsitzende Richter sagt.

In der Folge des Unfalls sei der Junge verhaltensauffällig geworden

Sicher ist, dass Erna F. sich in der DDR als Angestellte in einem Kombinat hocharbeitete. Sie hatte drei Kinder und war zwei Mal verheiratet. Eines Tages erlitt ihr zweiter Ehemann bei einem Autounfall schwere Verletzungen. Mario saß mit im Auto, er war damals zwei. In der Folge des Unfalls sei der Junge verhaltensauffällig geworden, so der Richter. Er liebte es zu zündeln, klaute Süßigkeiten und trieb sich lieber herum, statt zur Schule zu gehen.

Als er an einem Novembermorgen 1974 tot im Stockbett lag, fiel der Verdacht sofort auf die Mutter. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, Leute vom Gaswerk stellten fest, dass der Herd erst auf und dann wieder abgedreht worden war. Mario hatte so viel Gas eingeatmet, dass er noch in der Küche gestorben wäre. Seine Leiche lag aber zwei Zimmer weiter. Auch sagte eine Tochter von Erna F., die Mädchen hätten in jener Nacht in einem anderen Zimmer schlafen müssen als sonst und Erna F. habe die Fenster geöffnet. Doch die Ermittlungen wurden eingestellt, ein Staatsanwalt sagte damals: Wir glauben, dass die Frau es war, aber wir können es nicht nachweisen.

Das ist 42 Jahre später nicht anders. Der Vorsitzende Richter verliest einen Freispruch, dann sagt er, dass das Gericht alles getan hätte, "was in unserer Macht stand, um die Wahrheit herauszufinden". Ehemalige Arbeitskollegen wurden als Zeugen geladen, der Ex-Ehemann, die Töchter der Angeklagten, ein früherer Liebhaber und sogar die Freundin des damals ermittelnden Staatsanwalts.

Welchen Vorteil hätte sie vom Tod des Jungen gehabt?

Der Richter hält in seiner Urteilsbegründung "nichts für ausgeschlossen". Natürlich könne Erna F. ihren Sohn umgebracht haben. Aber welchen Vorteil hätte sie davon gehabt, "die höchste Hemmschwelle für einen Menschen" zu überschreiten? Möglich sei auch, dass Mario nachts in die Küche gegangen sei, etwas genascht und am Gasherd gespielt habe und schließlich bewusstlos geworden sei. Dann könnte ihn ein Familienmitglied ins Bett gebracht haben. Erna F. vielleicht, die glaubte, "der berappelt sich schon wieder". Oder die Tochter, die es nicht wagte, Erna F. zu wecken, weil diese ihre Kinder schon mal schlug. Das würde erklären, warum diese Tochter ihre Mutter in dem Prozess so stark belastete. Aus einem späten Schuldgefühl, aber vielleicht auch, weil die Mutter sie nach Marios Tod beim Vater zurückließ und nur mit der Schwester in den Westen ausreiste.

"Man hat Zweifel", sagt der Richter. "Mit diesem Urteil müssen nun alle leben, ob es ihnen gefällt oder nicht." Erna F. nimmt das alles schweigend hin, während des gesamten Prozesses hat sie kein Wort gesagt. Als die Richter den Saal verlassen, steht sie auf und spaziert zum Zug. Was in jener Nacht mit ihrem Sohn geschah, wird ihr Geheimnis bleiben.

© SZ vom 14.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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