Drei Stunden dauert die Verhandlung schon, als der Richter sich mit eindringlichen Worten an den Angeklagten und seine Ankläger wendet. Er sagt: "Wahrscheinlich würden Sie alle heute alles andere lieber machen als das hier." Wahrscheinlich. Aber trotzdem sitzen sie sich am Mittwochvormittag im Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts gegenüber. Trotzdem haben sie sich in diesen ersten drei Stunden noch einmal in minutiösem, grausamen Detail an den 11. März 2009 erinnern lassen - jenen Tag, der ihr Leben, wie sie es kannten, blitzartig beendete.
Der Richter hat ein Protokoll des Amoklaufs an der Albertville-Realschule von Winnenden verlesen, mit leiser, aber fester Stimme hat er aufgezählt, wer wann in welchem Klassenzimmer mit wieviel Kugeln erschossen wurde. Die Angehörigen der Opfer haben ihr Gesicht dabei in den Händen vergraben oder mit Tränen in den Augen an die Decke gestarrt.
Auch Jörg K., dunkelgraues Sakko, hellgraues Hemd, hat von der Bank des Beklagten oft einfach an die Wand geschaut. Und nicht in die Runde, nicht in die Gesichter der Mütter und Väter, Schwestern und Brüder all der Menschen, die sein Sohn Tim damals ermordet hat - mit seiner, mit Jörg K.'s Waffe, die er im Kleiderschrank statt im Tresor aufbewahrt hatte.
"Komplettes Versagen des Vaters"
43 Hinterbliebene haben sich dem Strafverfahren gegen ihn als Nebenkläger angeschlossen, sie sind sicher: Wenn K. besser aufgepasst hätte, würden ihre Liebsten noch leben.
Im Februar 2011 hatte das Landgericht bereits ein Urteil gesprochen gegen Jörg K.: Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung, nicht nur wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, sondern vor allem wegen fahrlässiger Tötung in 15 und fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen. Einen Prozess wie diesen hatte es in Deutschland seit 100 Jahren nicht gegeben: Auch K. hat sein Kind verloren und ist nach Auffassung des Gerichts dennoch ein Täter. "Ohne das komplette Versagen des Vaters wäre der Sohn nicht an die Waffe und die Munition gekommen", begründete der Richter damals sein Urteil.
285 Patronen hatte der 17 Jahre alte Tim sammeln können, weil sie der Vater in Taschen und Pappkartons herumliegen ließ. 113 Schüsse hat er dann abgegeben am 11. März 2009, mit dem letzten richtete er sich selbst.
Doch K. wollte die Bewährungsstrafe nicht akzeptieren. Beobachter mutmaßen, seine Anwälte wollen unbedingt vermeiden, mit einem Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung in die anstehenden Zivilprozesse zu gehen. Dann wird um Schadensersatz und Schmerzensgeld gestritten. Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) hat K. die Neuauflage des Verfahrens erzwungen.
Der BGH hat einen eklatanten Rechtsfehler darin erkannt, dass die Verteidigung ausgerechnet jene Zeugin nicht befragen konnte, die den Angeklagten schwer belastet hatte: eine Therapeutin, die die Familie des Amokläufers nach der Tat betreute. Erst sagte sie aus, Jörg K. habe von den Tötungsfantasien seines Sohnes gewusst. Später widerrief sie die Aussage - und dann den Widerruf. Schließlich machte sie von einem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, das ihr nach Dafürhalten des BGH gar nicht zugestanden hätte.
Niedrige Hürden für einen erneuten Schuldspruch
Jetzt beginne also "alles auf null", sagt Richter Ulrich Polachowski. "Dieses Verfahren wird Wunden aufreißen." Das Urteil gegen K., erklärt er, dürfe dabei aus formalen Gründen nicht höher ausfallen als beim ersten Mal. Dass es ganz anders ausfallen könnte, gilt vielen Rechtsexperten indes als unwahrscheinlich: Der BGH wollte die Hürden für einen erneuten Schuldspruch offenbar niedrig setzen - darauf deutet ein Hinweis am Ende der Entscheidung von Mai.
Eine "präzise Kenntnis des Angeklagten über das Maß der psychischen Erkrankung" Tims sei nicht unbedingt erforderlich, um "den Vorwurf der Fahrlässigkeit zu begründen", heißt es da. Dafür reiche schon die unzulängliche Sicherung von Waffen und Munition.
Auf diese Fragen soll sich das neue Verfahren konzentrieren, allen Beteiligten bleibt damit zumindest eine neue Beweisaufnahme zum Amoklauf selbst erspart. Jörg K. lässt seine Anwälte am Mittwoch mitteilen, dass er vor Gericht wieder keine Angaben zur Sache machen wolle; nach der Tat habe er ja ausführlich mit den Ermittlern gesprochen.
Kurz darauf steht die Schwester eines Opfers auf und sagt: "Überlegen Sie es sich, zeigen Sie ein bisschen Menschlichkeit. Das würde uns sehr helfen." Und Richter Polachowski sagt, er habe da eine Befürchtung, egal welches Urteil er am Ende sprechen werde: "Dann wird es wohl auch nicht vorbei sein."