Neonazi-Attacke in Halberstadt:Schatten der Gleichgültigkeit

Rechtsextremisten verprügelten in Sachsen-Anhalt eine Theatertruppe - Schaulustige beobachteten die Szene, und die Polizei griff nur halbherzig durch. Nun hat sie Fehler eingeräumt.

Arne Boecker

Wegen ihres zögerlichen Verhaltens nach einem Neonazi-Überfall gerät die Polizeidirektion Halberstadt immer stärker in die Kritik. Zunächst hatte die Theatergruppe, die am Samstagmorgen um 3 Uhr auf offener Straße verprügelt und misshandelt worden ist, den Vorwurf erhoben, Polizisten seien in der Tatnacht zu lasch aufgetreten.

halberstadt neonazis dpa

Die Schauspieltruppe hatte das Musical "Rocky Horror Picture Show aufgeführt: Fünf der insgesamt 14 Künstler wurden teils schwer verletzt.

(Foto: Foto: dpa)

Am Montag räumte auch das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt ein, dass es bei dem Polizeieinsatz eine Panne gegeben hat. "Ich teile den Zorn der Opfer", sagte Minister Holger Hövelmann (SPD) am Montag. Fünf Schauspieler, Musiker und Tänzer hatten bei der Attacke Knochenbrüche, Platzwunden und Prellungen erlitten.

Der zuständige Dienstgruppenleiter wurde von seiner Position entbunden. "Der Einsatz war geprägt von einer Mehrzahl von Fehlleistungen", sagte Polizeipräsidentin Christiane Marschalk.

Die ersten Beamten seien eine Minute nach Alarmierung vor Ort gewesen. Sie hätten die Situation dort als "unübersichtlich" empfunden und nach eigenen Aussagen unterschätzt, sagte Marschalk. "Der hinlänglich bekannte Haupttäter hätte festgenommen werden müssen." Die Beamten nahmen lediglich Personalien des 22-jährigen Tatverdächtigen aus Halberstadt auf und ließen ihn laufen.

Vorstrafen wegen rechtsextremer Taten

Das Vorstrafenregister des jungen Mannes enthält Einträge wegen rechtsextremistischer Straftaten, Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Ein "weiteres Festhalten" sei "möglich und sachgerecht gewesen", sagte Innenminister Hövelmann. Er betonte allerdings, dass "weitere Ermittlungen zu keinem Zeitpunkt in Frage gestanden" hätten.

Der Innenminister ordnete an, den Fall intern zu untersuchen. "Entsetzt" von der Brutalität der Gewalttäter forderte Hövelmann alle Polizisten auf, "keinerlei Toleranz" gegenüber dem "rechten Mob" zu zeigen. Er wünsche sich "ein Klima des Vertrauens zur Polizei", ergänzte Hövelmann. Wieder einmal hätten Schaulustige dabeigestanden, als die Neonazis losschlugen. Dieser "Schatten der Gleichgültigkeit", so Hövelmann, müsse vertrieben werden.

Am Sonntagabend hatte die Polizei den 22-jährigen Verdächtigen dann doch verhaftet. Er legte ein Geständnis ab, weigert sich jedoch, die Namen seiner Komplizen zu nennen. Aud Merkel, Dramaturgin am Nordharzer Städtebundtheater, begrüßt, dass Polizei und Politik "inzwischen anerkennen, dass meine Kollegen mit ihrer Kritik richtig gelegen haben". Die 14 Ensemblemitglieder des Theaters, die am Samstag überfallen wurden, haben Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die eingesetzten Polizisten erhoben.

Zusammen mit den Nachbarstädten Wernigerode und Quedlinburg gilt Halberstadt seit langem als Brutstätte der Neonazis. Bis vor zwei Jahren hatte es in Wernigerode eine Kameradschaft gegeben, die sich "Aktionsfront" nannte. Als sie vom Innenministerium verboten wurde, ging daraus ein "Stützpunkt" der Jungen Nationaldemokraten (JN) hervor, die als NPD-Nachwuchs gelten.

"Wir beobachten hier dasselbe Phänomen wie in vielen ostdeutschen Städten und Dörfern", sagt Mario Schieck von der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Halberstadt. "Die Kameradschaften lösen sich auf, und die Neonazis treten in die NPD ein."

"Keine festgefügten rechtsextremistischen Strukturen"

Ein Sprecher der Halberstädter Polizei hatte am Sonntag der Süddeutschen Zeitung gesagt, dass es in Halberstadt "keine festgefügten rechtsextremistischen Strukturen" gebe. Die meisten Straftaten resultierten aus Saufgelagen. Mario Schieck will das so nicht gelten lassen, bestätigt aber, dass es neben den organisierten auch unorganisierte Rechtsextremisten gibt.

Als "besonders schlimm" bezeichnet es Schieck, dass "sehr viele sehr junge Neonazis mit stolzgeschwellter Brust durch die Stadt laufen, ohne dass jemand Anstoß daran nimmt". Er hat bis zu zwanzig Mann starke Gruppen beobachtet. Von der Spitze der Polizeidirektion werde seine Beratungseinrichtung ernstgenommen und unterstützt, sagt Schieck.

"Aber ob unsere Ideen beim normalen Polizeibeamten ankommen, steht auf einem anderen Blatt." Nun werden sich die verletzten Schauspieler mit den Fachleuten von der Mobilen Beratung zusammensetzen, um das weitere Vorgehen zu beraten.

Halberstadt kein "Nazi-Nest"

Theater-Dramaturgin Aud Merkel legt Wert auf die Feststellung, dass man Halberstadt nicht darauf reduzieren dürfe, ein Nazi-Nest zu sein. Sie verweist auf das Bürgertum, dem sich nicht zuletzt der Theaterbund der beiden Städte Halberstadt und Quedlinburg verdankt. Zudem gibt es einen Ableger der Potsdamer Moses-Mendelssohn-Akademie in Halberstadt.

Die Akademie hat sich dem Erhalt jüdische Kultur und Geschichte verschrieben. Auch wenn der vergangene Samstag dagegen spreche, bleibe sie bei ihrer Einschätzung, dass "Halberstadt eigentlich eine kultivierte Stadt ist", sagt Aud Merkel. Sachsen-Anhalt ist allerdings das Bundesland mit den meisten rechtsextremistischen Straftaten pro Einwohner in Deutschland.

Immer wieder haben Neonazis hier mit Untaten Aufsehen erregt, zuletzt mit der Verbrennung eines Anne-Frank-Tagebuchs in Pretzien. In Halberstadt hatte die Neonazis niemand provoziert - trotzdem schlugen sie mit aller Kraft zu. Noch am Montag sind auf der Spiegelstraße die Flecken zu erkennen, die das Blut der Opfer geformt hat.

Die Theatertruppe scheint den Schwarzgekleideten einfach zu bunt und zu fröhlich gewesen zu sein. Sie hatte im Nachbarort gerade die Premiere der "Rocky Horror Show" gegeben. Einer trug noch den punkigen Irokesen-Schnitt auf dem Kopf, den die Rolle verlangte. Hass auf das Andere: Derselbe Antrieb muss auch hinter einem Vorfall im April stecken.

Weil kein Blut floss, schaffte er es lediglich in die Lokalzeitungen. Ein junger Mann in schwarzer Bomberjacke hatte einem Mädchen, das nach dem Musikunterricht auf den Bus wartete, das Cello weggenommen. Er zertrat das Instrument in tausend Teile und spazierte weiter. Der Tatort liegt in der Spiegelstraße. An derselben Stelle wüteten jetzt die Neonazis.

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