Süddeutsche Zeitung

Nahverkehr streikt in Brüssel:Mit Stillstand gegen Kriminalität

In Brüssel streikt der gesamte Nahverkehr: Seit fünf Tagen bleiben Busse, Straßenbahnen und Metros in den Depots. Aber die Mitarbeiter streiken nicht nur, weil einer ihrer Kollegen am Samstag nach einem Faustschlag ins Gesicht verstarb. Sie wollen auch auf die katastrophale Sicherheitslage in der Stadt aufmerksam machen.

Cerstin Gammelin, Brüssel

Lange Schlangen an Taxi-Rufsäulen, von Autos verstopfte Straßen, leere Haltestellen bei Bussen und Bahnen, verschlossene Metro-Eingänge. In der belgischen Hauptstadt ging auch an diesem Mittwoch fast nichts im öffentlichen Nahverkehr. Den fünften Tag in Folge blieben die meisten Busse, Straßenbahnen und Metros in den Depots. Wer im Internet nach Fahrplänen suchte, fand nur den Hinweis, dass der Service "stark eingeschränkt" sei; je zwei Straßenbahnen und Metrolinien würden betrieben, zum späteren Feierabend sollten zwei weitere Metrolinien und einige Busse wieder fahren, allerdings unregelmäßig. Wann die Mitarbeiter der öffentlichen Verkehrsbetriebe Brüssels (Stib) wieder normal in die Führerhäuschen ihrer Busse und Bahnen steigen werden, blieb offen.

Die Mitarbeiter streiken nicht nur, weil einer ihrer Kollegen am Samstag nach einem Faustschlag ins Gesicht verstarb. Sie streiken, weil dieser tragische Tod ein weiterer Beweis dafür ist, wie gefährlich das Pflaster geworden ist - und weil sie deshalb mehr Sicherheitspersonal wollen. Brüssel ist nicht nur Hauptstadt Europas, sie liegt auch bei der Kriminalität ganz vorne. Vor allem im Europa-Viertel, also dort, wo die Europäische Kommission und das Europäische Parlament beheimatet sind, werden Beamte und Volksvertreter beraubt und zusammengeschlagen. Jeder weiß, dass die Menschen hier meist Laptop, Smartphone, Kreditkarte und Bares bei sich haben.

Laut Polizei stammen viele Täter aus den Stadtbezirken, in denen Einwanderer wohnen. Aber auch Jugendliche sind dabei, jeder zweite Jugendliche ist in Brüssel ohne Arbeit oder Ausbildung. Die Europäische Statistikbehörde bescheinigte Belgien jüngst sogar eine gegen den europäischen Trend steigende Kriminalitätsrate. Während europaweit die Zahl der Straftaten wie Drogenhandel, Einbruchsdiebstahl und Gewaltüberfall sinke, steige sie in Belgien an. Bei den Morden rangiert Brüssel mit 3,09 Ermordeten auf 100.000 Einwohner an fünfter Stelle, nach Amsterdam, Luxemburg, Tallinn und Vilnius.

Dass Brüssel so schlecht dasteht, liegt auch an der hiesigen Polizei. Polizisten sind schlecht ausgerüstet und werden schlecht bezahlt. Viele haben den Kampf gegen die Kriminalität längst aufgegeben. Den Tod eines Stib-Mitarbeiters nehmen die öffentlichen Verkehrsbetriebe zum Anlass, mehr und besser ausgerüstete Beamte zu fordern: Von Juni an sollten 400 zusätzliche Polizisten für mehr Sicherheit im Nahverkehr sorgen. Belgiens Innenministerin Joëlle Milquet unterstützt diese Idee zwar grundsätzlich, hält die Zahl der zusätzlichen Sicherheitsbeamten aber zugleich für unrealistisch. Sie versprach statt dessen, binnen zwei Wochen einhundert Polizisten für den Nahverkehr abzustellen.

Doch selbst das erscheint unrealistisch. Schon jetzt fehlen überall Beamte. Für zusätzliche Stellen ist kein Geld da. Brüssel ist seit Jahren chronisch unterfinanziert, auch, weil die Flamen sich weigern, der überwiegend frankophonen Hauptstadt mehr Geld zu geben. Letzten Endes wirft der Tod des Beamten das Land wieder auf den ewigen Streit zwischen Flamen und Wallonen zurück - eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht.

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SZ vom 12.04.2012/vs
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